Das, was die heutige Hochburg der Weihnachtsindustrie hervorbrachte, nahm vor fast 40 Jahren mit einem Streit zwischen einer Straßenhändlerin und dem obersten Bonzen der zentralchinesischen Stadt Yiwu seinen Anfang. Der kommunistische Beamte Xie Gaohua war, so erzählt man sich, 1982 auf dem Weg in den Palast der Stadtregierung, als ihn Feng Aiqian abfing: „Warum lässt du uns immer vertreiben?“, schimpfte die Händlerin. Feng hatte zuvor auf der Straße Schnürsenkel verkauft. In den Augen von Ordnungshütern die „Ausübung einer kapitalistischen Aktivität“, was zu der Zeit streng verboten war, denn die fanatische Ideologie des Mao Zedong wirkte noch nach.
Die selbstbewusste Feng ließ sich mit Phrasen nicht abwimmeln, es sammelten sich Schaulustige. Um eine Szene zu vermeiden, lud Xie sie in sein Büro ein. Die beiden rauchten Zigaretten zusammen, während die wenig gebildete Straßenhändlerin dem mächtigen Kader erklärte, welche Vorteile der Handel mit sich bringt, um die Armut in der Stadt zu bekämpfen. Bei Xie machte es klick. Er schwenkte politisch um und ließ einen ordentlichen Markt für Kleinwaren errichten. Der zu Beginn nur geduldete Kleinhandel entwickelte sich „wie ein Vulkanausbruch“, erzählte Xie später der örtlichen Zeitung Dushi Kuaibao.
Aus der Markthalle sollte in den folgenden Jahrzehnten der weltweit größte Umschlagplatz für Gebrauchs- und Dekorationsgüter werden. Durch eine Reihe von Zufällen verlagerte sich der Schwerpunkt irgendwann zu den nischigen, aber höchst lukrativen Weihnachtsartikeln – mit der Folge, dass Yiwu heute den globalen Markt in diesem Segment beherrscht. China selbst feiert zwar kein Weihnachten, aber in Yiwu decken sich die professionellen Abnehmer aus Europa und den USA im großen Stil mit günstig produzierten Waren ein. Hier finden sie massenhaft Christbaumkugeln, Holznikoläuse, Lichterketten, Krippen, Engel, Sterne und alles, was der Konsument sonst noch wünscht zum christlichen Fest der Liebe – und des Massenkonsums. Darunter vieles, das betont bunt blinkt oder „Jingle Bells“ spielt, wenn man draufdrückt.
Die ARTE-Dokumentation „Merry Christmas, China“ zeigt die florierenden Geschäfte, aber auch den tristen Alltag vieler Arbeitskräfte hinter dieser glitzernden, kitschigen Warenwelt. Nach chinesischen Angaben kommen bis zu 70 Prozent aller Weihnachtsartikel auf der Welt aus Yiwu. Auch die Corona-Pandemie konnte die Exporterfolge nicht bremsen. Täglich rollen auch 2020 vom Frachtterminal in Yiwu zwei voll beladene Güterzüge in Richtung Europa los. Bis Ende August hatte die Stadt bereits 43.000 Tonnen an Waren zu den Kunden im Westen geschickt, berichtet die Yiwu Tianmeng Industrial Investment Corporation. Das sind 187 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Züge verteilen sich auf zwölf Routen, deren entfernteste Endstation Madrid ist. Sie hinterlassen an den Güterbahnhöfen auf dem Weg Frachtcontainer – viele davon randvoll mit Weihnachtsartikeln.
Der Export lohnt sich: Die Stadt Yiwu gehört nach Einschätzung der Zentralregierung zu den „Top-100-Standorten“ des boomenden Landes. Als Xie im Jahr 1982 seinen Dienst antrat, war Yiwu noch bitterarm, ein schmutziges Industriezentrum in einer Agrarregion. Die Bauern in den umliegenden Landkreisen versorgten sich auf ihren Feldern, aber in der Stadt hatten einige Bürger kaum genug zu essen. Xie Gaohua war damals 50 Jahre und ganz neu als Parteisekretär angekommen. Dieser Posten ist in der kommunistischen Hierarchie der mächtigste auf lokaler Ebene – auch die Bürgermeister einer Stadt müssen seine Befehle ausführen. Xies wichtigster Auftrag lautete, die Armut zu bekämpfen. Der Reformer Deng Xiaoping, damals Parteiführer und somit direkter Nachfolger von Mao Zedong, hatte es so vorgegeben. Doch wie sollte Xie das bewerkstelligen?
Der Zusammenstoß mit der forschen Straßenhändlerin Feng öffnete ihm die Augen, wie er chinesischen Medien später anvertraute. Basierend auf Maos Lehren hatte Xie in den 30 Jahren zuvor auf der Parteischule und in ideologischen Seminaren das Gegenteil eingebläut bekommen: Wohlstand entstehe durch Planwirtschaft, hieß es da, und Handel sei ein schädliches Relikt der vorsozialistischen Zeit. Doch Xie wusste auch, dass Deng eine Zeitenwende eingeläutet hatte und mehr private Initiative zulassen wollte. Also fuhr er 250 Kilometer in die Küstenstadt Wenzhou, um sich schlauzumachen. Xie hatte gehört, dass die Verantwortlichen dort den Kleinhandel schon länger zuließen. Eine Barriere hoher Berge zum Inland und die Hafenlage hatten besondere Bedingungen geschaffen. Die Kontrolle der Partei war schwach, fast jede Familie hatte Verwandte im Ausland. Die Produktion von Waren wie Gürteln, Schuhen, Textilien oder Gebrauchsgegenständen hatte bereits begonnen, ebenso wie der Export. Xie nahm sich Wenzhou zum Vorbild.
Unterstützung gab es von der Zentralregierung. In Peking waren Anfang der 1980er Jahre eigene Märkte entstanden, auf denen Händler aus verschiedenen Landesteilen die jeweiligen Billigwaren anboten. Bis heute bestehen etwa der „Russenmarkt“ oder die „Seidengasse“ als Touristenattraktion weiter. Damals gingen die Produkte bis nach Zentralasien, Osteuropa oder Afrika. Die Hauptstadt sah ihre Rolle jedoch nicht als Umschlagplatz von Waren zwischen den Südprovinzen und dem Rest der Welt, weshalb die Beamten schließlich begannen, nach und nach auch Großmärkte in den Herkunftsregionen zu fördern.
Der Handel hat sich entwickelt wie ein Vulkanausbruch
4.000 Einkäufer aus aller Welt
In dieser Situation ergriff Xie die sich bietende Chance und ließ in Yiwu einen ersten Markt für kleine Industrieartikel eröffnen. Noch war die Stadt aber nicht auf Weihnachten spezialisiert. Bis zur Jahrtausendwende waren nur fünf Manufakturen mit Plastikbäumen und dergleichen beschäftigt. Doch chinesische Geschäftsleute ahmen gerne das Erfolgsmodell ihrer unmittelbaren Nachbarn nach – einer der Gründe, warum sich viele Wirtschaftszentren auf einzelne Produktgruppen spezialisierten. Parallel zu den Weihnachtsartikeln gibt es in den riesigen Markthallen von Yiwu heute auch Millionen weiterer Produkte. Gleich auf dem zweiten Platz im Angebots-Ranking liegen Jeans und Sportkleidung. Täglich sind in Yiwu nach Schätzungen der Stadtverwaltung 14.000 ausländische Einkäufer aus über 100 Ländern unterwegs. Es gibt türkische, arabische, afghanische, thailändische und russische Ecken mit den passenden Hotels und Restaurants. In den muslimischen Vierteln stehen Moscheen. Yiwu hat den Großhandel mit kleinen Waren längst zur Kulturform erhoben.
Der weitsichtige Parteisekretär Xie starb im vergangenen Jahr. In den Wirtschaftskreisen Chinas gilt er heute vielen als Vorbild. Nicht zuletzt dank ihm ist der Typus des geschäftstüchtigen Kommunisten keine Seltenheit mehr, sondern nimmt eine dominante Rolle in der chinesischen Verwaltung ein. So wie Yiwu haben sich zahlreiche Städte zu exportstarken Zentren von Produktion und Handel entwickelt. Von Orten wie Yiwu und Wenzhou aus lief Chinas inoffizielle kapitalistische Gegenrevolution an, an deren Ende vom Maoismus nichts mehr übrig bleiben sollte. Fabriken, die auf Abruf genau das produzieren, was weltweit gefragt ist, bilden das Rückgrat der chinesischen Exportindustrie – und begründen Chinas Status als wirtschaftliche Weltmacht.