»In meinem Kopf ist immer Musik«

Das Konzerthaus Berlin hat eine neue Chefdirigentin: ­Joana ­Mallwitz. ARTE strahlt ihr Antrittskonzert aus. Ein Gespräch über Partituren, Perfektionismus und Authentizität.

Joana Mallwitz sitzt auf einem Stapel von Stühlen
Ihre erste Saison als Chefdirigentin und Künstlerische Leiterin des Berliner Konzert­haus­orchesters beginnt Joana Mallwitz mit Gustav Mahlers Symphonie Nr. 1. Das frühe, in klassisch-romantischer Art aufgebaute Werk des österreichischen Komponisten erfreut sich großer Beliebtheit. Foto: Sima Dehgani

Das Büro von Joana Mallwitz im Berliner Konzerthaus ist „noch nicht ganz eingerichtet“, wie sie entschuldigend anmerkt. Das verwundert kaum, schließlich ist ­Mallwitz erst im August als neue Chefdirigentin des Konzerthaus­orchesters von Nürnberg in die Hauptstadt gezogen. „Jeden Tag, den ich hier reinkomme, empfinde ich eine pure Freude und Glücksgefühle“, sagt die 37-Jährige, die mit 20 die erste Oper dirigierte und mit 27 jüngste Generalmusikdirektorin in Europa war. Im Gespräch mit dem ­ARTE ­Magazin erzählt sie, warum sie in Italien „­Maestro“ genannt wird, wie sie Partituren studiert und weshalb klassische Musik nicht erklärt werden muss.

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 1 Antrittskonzert von Joana Mallwitz am Konzerthaus Berlin

Konzert

Sonntag, 19.11. — 17.25 Uhr
bis 18.12. in der
Mediathek

ARTE Magazin Frau Mallwitz, stimmt es, dass Sie als Kind Polarforscherin werden wollten?

Joana Mallwitz Oh, ich wollte ganz viele verschiedene Sachen werden. Unter anderem im ewigen Eis forschen, Dinge entdecken, irgendwo hingehen, wo noch niemand vorher war. Darum ging es, glaube ich.

ARTE Magazin Doch dann hat Sie das Lesen von Partituren so gefesselt, dass Sie Dirigentin „werden mussten“, wie Sie einmal betont haben. Was ist denn so spannend daran?

Joana Mallwitz Das ist schwer in Worte zu fassen. Ich habe als Teenager angefangen, diese Werke zu lesen, und konnte nicht mehr aufhören. Das waren alles neue Entdeckungen für mich. Denn als Kind kannte ich diese Musik nicht. Ab da wusste ich, dass ich mein Leben damit verbringen möchte, Partituren zu studieren und zu gestalten. Das ermöglicht einem der Beruf des Dirigenten.

ARTE Magazin Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine Partitur studieren?

Joana Mallwitz Man fängt einfach an, zu lesen. Ich sage immer: Der Komponist hatte eine große Idee. Die musste er herunterbrechen auf viele kleine einzelne Zeichen. Unsere Aufgabe ist es, diesen Weg zurück zur großen Idee zu finden – indem wir uns jede einzelne Note, jedes Pausenzeichen, jeden Stakkatopunkt anschauen. Ich lese die Partitur immer und immer wieder und versuche, erst mal ganz viel wahrzunehmen und das Stück wachsen zu lassen – in meinem Kopf, im Herzen und im inneren Ohr.

ARTE Magazin Das passiert alles, bevor das Orchester ins Spiel kommt?

Joana Mallwitz Ja. Aber das Schöne ist, dass man viele Aspekte eines Werkes erst kennenlernt, wenn man es zusammen mit den Musikern des Orchesters auf die Bühne bringt. Wenn man sieht, wie sich das Stück unter Adrenalin verhält, vor Publikum, in diesem Flow. Trotzdem ist der Großteil der Arbeit eines Dirigenten der, den man eben nicht sieht: der vor der allerersten Probe. Ohne das Lesen, das Studieren würde man das Stück auch auf der Bühne nicht kennenlernen. Man würde es nur verwalten.

Joana Mallwitz dirigiert das Orchester
Foto: Simon Pauly

ARTE Magazin Sind Sie perfektionistisch? 

Joana Mallwitz Ich glaube, in der Vorbereitung bin ich perfektionistisch, im Moment eines Konzertes aber nicht. Denn das würde zu Stillstand führen. Fürs Studieren und Proben braucht es einen gewissen Perfektionismus, durch den man durch muss – um dann am Ende loslassen zu ­können. Dann kann man sagen: So, jetzt vergessen wir alles, was wir gemacht haben, und schauen mal, was das Stück heute Abend mit uns macht.

ARTE Magazin Wie viel Spielraum bleibt denn für Ihre eigene Interpretation eines Werkes, wenn es in erster Linie um die Idee des Komponisten geht?

Joana Mallwitz Wir sind alles Menschen, jeder hat einen anderen Filter, einen anderen Atem, eine andere Geschwindigkeit, andere Lebenserfahrungen. Daher wird ein Werk unter jeder Dirigentin, jedem Dirigenten, mit jedem Orchester, in jedem Raum und auch für jeden Zuhörenden anders klingen. Jeder versucht, die Welt des Komponisten und die Regeln, die in einem Werk herrschen, zu verstehen; und ich muss natürlich eine klare Vorstellung haben, wie ich ein Werk verstehe. Interpretation entsteht in einem sich bewegenden Spannungsfeld.

ARTE Magazin Sie haben schon mit 20 die erste Oper dirigiert – wie hat sich Ihre Art zu dirigieren seitdem verändert?

Joana Mallwitz Ich habe hoffentlich dirigieren gelernt seitdem! Damals war ich blutige Anfängerin. Und wir Dirigenten können das Dirigieren ja nur vor einem Orchester lernen. Da kann man sich nicht fünf Jahre lang einschließen und Bücher übers Dirigieren lesen. Ich hatte großes Glück, dass ich früh ins kalte Wasser geworfen wurde und alles machen musste: assistieren, korrepetieren, coachen, mit Sängern arbeiten – und dirigieren.

ARTE Magazin Man liest überall, Sie haben das Staatstheater Nürnberg – Ihre Station als Generalmusikdirektorin vor dem Berliner Konzerthaus – zu einem Opernmekka gemacht. Wie fühlt sich das an?

Joana Mallwitz Darüber freue ich mich natürlich. Auch weil das Dinge sind, die bleiben. Ich habe dort zum Beispiel die Junge Staatsphilharmonie initiiert, ein Jugendorchester. Junge Menschen kommen dort zusammen und machen Musik. Das geht weiter und freut mich enorm.

ARTE Magazin Werden Sie gerne „Maestra“ genannt?

Joana Mallwitz Dieser Begriff ist, je nachdem, wo man sich befindet, völlig unterschiedlich behaftet. In Italien sagen alle „Maestro“ zu mir. Und das ist überhaupt nicht überhöhend gemeint, sondern einfach der Name, den man Dirigenten gibt. In der Urform, männlich. In anderen Kontexten wirkt der Begriff überhöhend, sogar mystifizierend oder auch altbacken. Ich finde, die ganze Diskussion ist am Ende egal. Man darf mich nennen, wie man möchte.

ARTE Magazin Mussten Sie als Frau besonders gut sein, um am Dirigentenpult ernst genommen zu werden?

Joana Mallwitz Ich hatte das Gefühl, ich musste besonders gut sein – als Dirigent. Und das Gefühl hat wohl jede Dirigentin und jeder Dirigent. Es entscheidet sich in den ersten Minuten, wenn du vor ein Orchester trittst: Kann die technisch was? Kann der alle mitnehmen? Versteht die ihr Handwerk? Und wenn nicht, ist man sofort raus. Da hilft es auch nicht, ein Mann zu sein.

ARTE Magazin In einem Interview sagten Sie, dass jetzt gerade die Zeit ist, in der „Frauen nicht nur Dirigentinnen sein können, sondern Dirigentinnen sein können – genauso wie sie sind“. Wie ist das zu verstehen?

Joana Mallwitz Vor ein, zwei Generationen mussten Dirigentinnen und Frauen generell noch ganz andere Kämpfe ausfechten als heute. Ich bin recht naiv an diesen Beruf herangegangen – kannte weder den Beruf, den Betrieb noch die ganze Klassik-­Welt. Ich hatte keine Vergleiche mit anderen Dirigentinnen und Dirigenten. Ich wusste immer, ich kann nur so sein, wie ich bin. Sowieso bin ich sehr schlecht darin, mich zu verstellen. Ich habe mich nie abgehärteter gegeben, als ich bin. Und sicherlich hat man mir früher auch angesehen, wenn ich mal unsicher war. Ich glaube aber fest daran, dass am Ende Authentizität der Schlüssel zum Erfolg ist.

Ich kann mich nicht verstellen

Joana Mallwitz, Chefdirigentin
Porträt von Joana Mallwitz
Foto: Sima Dehgani

ARTE Magazin Am Konzerthaus Berlin geben Sie persönliche Einführungen. Muss klassische Musik erklärt werden?

Joana Mallwitz Nein. Und man braucht auch überhaupt nichts zu wissen. Man kann einfach ins Konzert gehen und zuhören. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich manchen Menschen helfen kann, die Ohren noch mehr zu öffnen. Und ehrlich gesagt, ich erkläre gar nichts. Ich erzähle vielmehr – was ich spannend an meiner Arbeit mit dem Stück fand, warum wir das so und so spielen. Später im Konzert spüre ich diese Energie im Publikum. Die Leute hören einfach anders zu, wenn sie sich mit der Musik beschäftigen.

ARTE Magazin Stört es Sie, wenn zwischen den Sätzen geklatscht wird? Das ist ja geradezu verpönt …

Joana Mallwitz Einfach klatschen! Wenn jemand denkt: Da macht die Musik etwas mit mir, ich bin mitgerissen, ich möchte klatschen – dann soll er klatschen! Wir auf der Bühne freuen uns, wenn Energie aus dem Zuschauerraum zurückkommt. Ich hoffe, dass wir solche Ängste aus den Köpfen kriegen. Bei Uraufführungen klassischer Werke gab es diese strengen Regeln ja auch nicht. In ­Beethovens 7. Symphonie musste der 2. Satz mehrmals wiederholt werden, weil die Leute klatschten. Und sollte es an einer Stelle besser sein, ein Werk in Stille zu beenden, ist es unsere Aufgabe auf der Bühne, die Spannung so zu halten, dass niemand klatscht.

ARTE Magazin Welche Musik hören Sie privat gerne?

Joana Mallwitz Wenn ich kann, gar keine Musik. Ich bin ja den ganzen Tag von Musik umgeben. Und in meinem Kopf ist auch immer, immer, immer Musik.