Die Scheinwerfer gehen an, das Orchester spielt eine Melodie des Komponisten Philip Glass. John Neumeier beobachtet aufmerksam die Pas de quatre der Tänzerinnen und Tänzer des Balletts „Die Glasmenagerie“. Seit 51 Jahren leitet der Choreograf die Ballettkompanie an der Staatsoper Hamburg und brachte sie zu Weltruhm. Nach dieser Spielzeit hört er auf. Für viele ist der 85-Jährige, dem ARTE im Juni ein Porträt widmet, eine Legende. Wie gelang es Neumeier, das Ballett so zu prägen?
Tanzende Menschen entdeckte John Neumeier zum ersten Mal für sich, als er mit fünf Jahren im Kino das Hollywood-Musical „Shine On, Harvest Moon“ sah. Er wuchs am Michigansee auf, in Chicago und Milwaukee. Über seine Mutter, die polnische Wurzeln hatte, sagt Neumeier in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Schnittblumen waren der einzige Luxus, den sie sich leistete. Sie lebte mir vor, dass man von kurzlebiger Schönheit beseelt sein kann.“ Sein Vater stammte aus einer deutschen Familie und fuhr als Kapitän zur See. Nachdem er erste Vorstellungen der Ballets Russe de Monte Carlo und des American Ballet Theatre gesehen hatte, wollte Neumeier mehr über den klassischen Bühnentanz wissen. Er lieh sich in der Bibliothek Anatole Bourmans „The Tragedy of Nijinsky“ aus, eine Biografie über die russische Ballettlegende Vaslav Nijinsky, die ihn bis heute beschäftigt. Durch Nijinskys Geschichte habe Tanz eine andere Dimension gewonnen, als die distanzierte und magische, die er bis dahin kannte. „Es war ein Mensch, der diese Kunst machte“, sagt Neumeier im ARTE-Porträt. Mit neun begann er mit Stepptanz, ein Jahr später kam das Balletttraining hinzu. Mit 18 wurde sein Talent von John Walsh entdeckt, einem Jesuitenpater, der das Universitätstheater der Marquette University in Milwaukee leitete. Walsh verhalf ihm zu einem Stipendium an der Ballettschule von Bentley Stone und Walter Camryn in Chicago: „Ich fuhr dreimal in der Woche 90 Minuten in die Ballettschule – und habe den Boden gewischt, damit ich nicht zahlen musste“, erinnert sich Neumeier, der aus einfachen Verhältnissen stammte.
Seinen Eltern zuliebe studierte er zunächst englische Literatur und Theater, bevor er nach einer Ballettausbildung in Kopenhagen und London von Tanzregisseur John Cranko für das Stuttgarter Ballett engagiert wurde. 1969 avancierte er in Frankfurt am Main mit 29 Jahren zum jüngsten Ballettchef Deutschlands, bis ihn der Intendant und Regisseur August Everding 1973 schließlich als Leiter des Hamburg Balletts an die Hamburgische Staatsoper holte. Dort schuf Neumeier seither mehr als 170 Inszenierungen – darunter Neuinterpretationen von „Romeo und Julia“ oder „Der Nussknacker“ und Biografien wie „Die dritte Sinfonie von Gustav Mahler“. In seinen Ballettstücken stellt Neumeier den Menschen in den Vordergrund: Räume und Kostüme sind oft nur angedeutet, mit wenigen Requisiten, um nicht abzulenken.
VOM BALLETTTÄNZER ZUM FADENZIEHER
„Vor Publikum als jemand anderes aufzutreten, bringt mich in andere Dimensionen – und das ist berauschend schön“, so Neumeier im SZ-Interview. Heute sei er der Beobachter, der aus der Distanz die Fäden in der Hand hält. Neben dem Ensemble, das aus 61 Tänzerinnen und Tänzern besteht, hat Neumeier in der Hansestadt eine eigene Infrastruktur geschaffen: Die Ballettwerkstatt gibt Einblick in die kreative Arbeit der Kompanie, die Hamburger Ballett-Tage münden alljährlich in die Nijinsky-Gala, die Ballettschule gehört zur Weltspitze, 2006 wurde die John -Neumeier Stiftung ins Leben gerufen. Nebenbei hat der Chefchoreograf, der seit 2018 mit dem Herzchirurgen Hermann Reichenspurner verheiratet ist, in seinem Zuhause in Hamburg-Eppendorf mit rund 50.000 Exponaten den weltweit größten Privatbestand von Ballettobjekten gesammelt, der etwa Perücken, Ballettschuhe und das Testament von Nijinsky umfasst.
Mit 66 Jahren tanzte Neumeier noch als Jesus Christus in Bachs Matthäus-Passion, mit 84 legte er zwei Überschläge auf den Schultern zweier seiner Tänzer hin. Einen zwingenden Grund, als Ballettdirektor aufzuhören, gibt es nicht. Ab August übernimmt sein Nachfolger, der argentinische Choreograf Demis Volpi. Mit der Uraufführung von „Epilog“ beendet Neumeier seine Schaffenszeit als Intendant des Hamburg Balletts. Doch er hat noch viel vor: Die nächsten drei Jahre ist er als freischaffender Choreograf ausgebucht, sein Vertrag als Festspielkurator in Baden-Baden läuft weiter – und für seine private Sammlung gründet er in einem Stadthaus am Mittelweg ein eigenes Institut.