Zeichnen für das freie Leben

Karikaturen gehören zu den ältesten Pressegattungen, provozieren aber zum Teil heftige Reaktionen. Was macht die Zeichnungen so mächtig – und wieso sind sie gerade jetzt so umkämpft?

Tanzende Ballerina in Ketten
Mit spitzer Feder: Die unangepassten Motive von ­Doaa El-Adl sorgen in Ägypten immer wieder für Diskussionen. 2013 wurde sie wegen Blasphemie angeklagt. ARTE porträtiert die Künstlerin im März. Illustration: Doaa El-Adl

Karikaturen, so schrieb die US-amerikanische Zeichnerin Ann Telaes, sind für eine Demokratie das, was die Kanarienvögel einst für Kohlekumpel waren: Trat bei der Arbeit unter Tage das gefährliche, aber geruchlose Kohlenmonoxid aus, so waren es die Vögel, die davon am schnellsten betroffen waren – und die Bergarbeiter konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen. Analog dienen politische Karikaturen laut ­Telaes innerhalb demokratischer Systeme als Frühwarnsystem: Sie decken politische Missstände auf, entlarven Machtverhältnisse, halten der Gesellschaft einen Spiegel vor. Einer der weltweit führenden Karikaturisten, der Schweizer Pulitzerpreisträger Patrick ­Chapatte, hat das ähnlich formuliert: „Karikaturen sind ein Produkt der Demokratie. Kränkeln die Karikaturen, schwindet die Freiheit.“

Chapatte, der 20 Jahre lang für die New York ­Times gezeichnet hatte, verlor im Jahr 2019 seinen Job bei der größten Tageszeitung der USA. Hintergrund war der Skandal um eine als antisemitisch kritisierte Karikatur, die allerdings nicht aus Chapattes Feder stammte, sondern von dem portugiesischen Zeichner ­António ­Moreira ­Antunes. Sie zeigte den damaligen US-Präsidenten ­Donald Trump – blind und mit einer Kippa auf dem Kopf –, der sich vom angeleinten israelischen Ministerpräsidenten durch die Gegend ziehen ließ. Benjamin ­Netanjahu war als Blindenhund dargestellt und trug einen Davidstern um den Hals. Nachdem die Karikatur millionenfach geteilt wurde und einen Shitstorm auf ­Twitter – mittlerweile X – auslöste, entschuldigte sich die New York Times und nahm sie von ihrer Webseite. Doch damit nicht genug: Die Zeitung entließ nicht nur ihren hauseigenen Zeichner, sondern beschloss in vorauseilendem Gehorsam, zukünftig komplett auf Karikaturen zu verzichten.

Zeichnen aus Protest

Dokureihe 

ab Mittwoch, 6.3.
— 23.40 Uhr
bis 11.4. in der Mediathek

Name: Doaa El-Adl, Karikaturistin

Leben: Die 44-jährige Kairoerin ist die berühmteste Karikaturistin der arabischen Welt. Ihre Zeichnungen erscheinen vor allem in Zeitungen.

Werk: Ihre provokanten Cartoons behandeln politische und religiöse Themen sowie die schwierigen Lebensbedingungen für Frauen in ihrer Heimat Ägypten. 

 

Karikaturistin Doaa El-Adl auf dem Sofa
In ihren Werken thematisiert ­Amany Al-Ali das restriktive Leben unter dem syrischen Diktator Baschar Al-Assad. Foto: Les Films du Balibari/ARTE F

WELTWEITER KULTURKAMPF UM DIE KARIKATUR

Chapatte, der sich unmittelbar nach ihrer Publikation von der misslungenen Netanjahu-Zeichnung distanziert hatte, veröffentlichte kurze Zeit später ein Statement auf seiner Website. „Hier geht es um mehr als diese Karikatur“, schrieb er, „es geht um Journalismus und Pressefreiheit im Allgemeinen.“ Weltweit, auch in den USA, wachse der Druck auf Karikaturisten. Schuld daran seien nicht nur Autokraten, sondern auch wütende Mobs im Internet, die sogar einflussreiche Zeitungen wie die New York Times in die Knie zwängen. „Wenn politischer Druck auf politische Korrektheit trifft, geht die Meinungsfreiheit verloren“, so sein Resümee. Das erste Opfer dieser Entwicklung seien Karikaturisten. Wie sehr sich deren Lage in den vergangenen Jahren tatsächlich zugespitzt hat, zeigt ein 2023 veröffentlichter Report der Initiative „Cartooning for Peace“. Darin werden Fälle von Zensur, Verhaftung und politischer Verfolgung unter anderem in Indien, Russland, Syrien, Ägypten und in der Türkei aufgeführt. In Diktaturen und Ländern mit autokratischen Strukturen riskieren Karikaturisten nicht nur ihre Jobs, sondern schlimmstenfalls ihr Leben.

Doch auch in Demokratien werden Karikaturisten immer häufiger zur Zielscheibe: Die aufgeheizte Debattenkultur sowie Hetze im Netz führen laut der Studie zu Selbstzensur. In einer sich verändernden Medienwelt, so das Fazit, wird es für die Karikatur immer enger – und das, obwohl die Macht des Bildes heute größer ist als je zuvor. Auch Anette Gehrig, Leiterin des Cartoonmuseums Basel, bestätigt diese Tendenz: „Die klassische Karikatur hat momentan wenig Platz“, sagt sie im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Das habe mitunter auch wirtschaftliche Gründe: Seit den frühen 1960er Jahren habe die Fotografie immer mehr Raum eingenommen. „Das Tempo hat zugenommen, der Spardruck auch“, sagt Gehrig, „mittlerweile gibt es nur noch wenige Zeitungen, die sich einen eigenen Comicstrip oder eine Karikatur leisten.“

Das Erstaunliche allerdings ist: Obwohl die Karikatur es in der heutigen Medienwelt schwer hat, hat sie nichts von ihrer gesellschaftlichen Sprengkraft eingebüßt. Kaum eine andere journalistische Gattung sorgt regelmäßig für so heftige Kontroversen. Das zeigen auch jüngere Beispiele aus Deutschland: Die Süddeutsche Zeitung etwa entließ 2019 nach einem Medieneklat von internationalem Ausmaß ihren langjährigen Zeichner Dieter Hanitzsch. Der hatte Benjamin Netanjahu beim Eurovision Songcontest gezeichnet – mit Davidstern und Rakete in der Hand. Kritik kam prompt, auch aus Israel: Die Tageszeitung Haaretz berichtete, dass viele im Land die Darstellung des Ministerpräsidenten mit großer Nase, großen Ohren und wulstigen Lippen als Beleidigung empfunden hätten.

Ich habe den gleichen Traum wie alle Künstler: das Ende der Zensur

Name: Amany Al-Ali, Karikaturistin

Leben: Die 39-jährige Syrerin lebt in der umkämpften Grenzregion Idlib. Vor neun Jahren brachte sie sich das Zeichnen selbst bei.

Werk: Im Rahmen internationaler Ausstellungen zeigt Al-Ali in ihren Cartoons das Leid in Syrien, wobei sie besonders die Anliegen der unterdrückten Frauen darstellt. 

 

Amany Al-Ali Karikaturistin macht Foto von sich
Platz für Träume und Heldinnen bieten die bunten ­Bilder der Russin ­Victoria Lomasko (Foto, u.). Foto: Les Films du Balibari/ARTE F

„Karikaturen können respektlos sein oder verletzen“, räumt ­Gehrig ein. Anders als ein Pressefoto, das die Realität möglichst unverfälscht abbilden soll, bringen Karikaturen die subjektive Meinung des Zeichners zum Ausdruck. „Sie arbeiten mit der Übertreibung, dem Verzerren, manchmal auch mit Stereotypen. Das ist ihre Essenz.“ Ein guter Zeichner vermeide dabei jedoch Pauschalisierungen. Die Idee der Karikatur sei nicht – wie etwa zu NS-Zeiten mittels antisemitischer Bildsprache geschehen –, ganze Menschengruppen abzuwerten. „Die Kunst besteht darin, genau zu beobachten und den richtigen Moment abzupassen, um zielgerichtete Kritik zu üben.“ Ein generelles Verbot bestimmter Themen oder Metaphern lehnt die Expertin dennoch ab: „Ich glaube, dass die Künstler ihre Freiheit behalten müssen.“

Wie vulnerabel diese Freiheit ist, wurde am 7. Januar 2015 auf katastrophale Weise deutlich. Damals stürmten zwei bewaffnete islamistische Terroristen die Redaktion des französischen Satire-­Magazins ­Charlie ­Hebdo und erschossen elf Mitarbeiter. Hintergrund des „verheerendsten Anschlags, der je auf eine Zeitungsredaktion verübt wurde“ (Spiegel) war die wiederholte Veröffentlichung von Mohammed-­Karikaturen. Bereits seit 2005 waren Karikaturisten europaweit dafür kritisiert und auch bedroht worden. „Das Attentat war sehr einschneidend für alle Zeichner“, erinnert sich ­Gehrig. ­Charlie ­Hebdo habe sich seit seiner Gründung 1970 an die Devise „ni dieu, ni maître“ gehalten, dass es also „nichts gibt, über das man nicht zeichnen darf“. Seinen Ursprung hat der Leitspruch (auf Deutsch: „Weder Gott noch Meister“) in der Französischen Revolution: Ein Jahr vor seinem Tod rief Louis-Auguste Blanqui (1805–1881), ein Mitglied der Pariser Kommune, eine gleichnamige Tageszeitung ins Leben. Für ­Gehrig bleibt der Satz im Kern unverhandelbar: „Unsere Gesellschaft hat sich diese Meinungsfreiheit erarbeitet, es ist unverständlich und ein Warnsignal, wenn solche Aussagen nicht mehr getätigt werden können.“

NEUE FORMEN DES POLITISCHEN COMICS

Neben der umstrittenen Frage, wie weit Satire gehen darf, stehen Karikaturisten heute vor weiteren Herausforderungen: Videos erreichen aufgrund von Social-Media-Algorithmen längst höhere Interaktionsraten als Bilder. Und Künstliche Intelligenz ist in der Lage, innerhalb von Sekunden Zeichnungen zu generieren, für die ein Mensch mehrere Stunden bräuchte. Laut Gehrig bedeutet all das jedoch nicht das Ende der Karikatur: „Es gab immer wieder Zeiten, in denen ein anderer Humor und andere künstlerische Ausdrucksformen gewünscht wurden.“ Die narrative Kunst sei Teil einer Gesellschaft, die sich verändert – und als solche selbst im Wandel.

Derzeit lasse sich beobachten, dass beispielsweise Comics wieder an Popularität gewinnen: „Wenn es darum geht, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen mit einzubeziehen oder Themen von verschiedenen Seiten zu beleuchten, bietet die Comicreportage viele Möglichkeiten“, sagt Gehrig. Das gelte insbesondere für Kriegsgebiete und Länder mit eingeschränkter Pressefreiheit: „Künstler können dort mit Symbolen und Verschlüsselungen arbeiten, um der Zensur zu entgehen.“ Die ARTE-Dokureihe „Zeichnen aus Protest“ porträtiert vor diesem Hintergrund Künstlerinnen aus Syrien, Ägypten, Russland, Indien und Mexiko, die neue Formen der Karikatur entwickeln. Die Russin Victoria Lomasko, die mehr als zehn Jahre lang das gesellschaftliche Leben unter Präsident Wladimir Putin zeichnerisch dokumentierte, hat das Cover dieser Ausgabe des ARTE Magazins gestaltet. „Ich betrachte politische Kunst nicht als Waffe, sondern als Raum für Begegnungen und gegenseitigen Respekt“, sagt sie.

Ich möchte mit jedem Bild eine Geschichte erzählen und das Leid zeigen

Name: Victoria Lomasko, Künstlerin

Leben: Die 45-jährige Moskauerin verließ nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ihre Heimat. Seit 2022 lebt und arbeitet sie in Leipzig.

Werk: Sie prägt das Genre der „grafischen Reportage“, einer Mischung aus Text und Comic, in der sie die russische Gesellschaft darstellt.

 

Ich konnte in Russland politische Kunst machen, weil ich unsichtbar war