Eine stürmische Februarnacht im Jahr 1954. Es wird Fasching gefeiert im Wirtshaus am See, die Dörfler haben sich kostümmäßig mächtig ins Zeug gelegt: Ein „Wilder“ im Baströckchen fehlt ebenso wenig wie ein „Indianer“, eine „Araberin“ oder ein „Jude“. Den Hit aber landet ein weiblicher Hitler, der sich mit Schnauzbart und Stilettos lasziv zur Musik wiegt, was die Stimmung ins Orgiastische kippen lässt. „Wir sind noch lange nicht alle abgetreten“, raunt die (Ver-)Führerin dem Gastwirt Pankraz ins Ohr. Der stammelt, überfordert von der eigenen Lüsternheit: „Ich war doch nie ein Nazi. Aber kein Nazi war ich nie.“
Harmlose Lüftlmalerei ist mit einem „feinfühligen Holzhacker“ (FAZ), wie der urbayerische Schauspieler Josef Bierbichler einer ist, nicht zu haben. Und so ist „Zwei Herren im Anzug“ (2018), die erste Regiearbeit des 71-Jährigen fürs Kino, kein Heimatschwank vor Alpenkulisse geworden, sondern ein bildgewaltiges Epos über Schuld, Verdrängung und die Fesseln der Herkunft. ARTE zeigt das eigensinnige Kunstwerk nun im Fernsehen. Es beruht auf Motiven aus Bierbichlers 2013 veröffentlichtem Erfolgsroman „Mittelreich“, in dem er die schaurige, drei Generationen umspannende Geschichte einer Gastwirtsfamilie vom Starnberger See erzählt.
Um Genre-Regeln schert sich der Eigenbrötler Bierbichler naturgemäß wenig. Insbesondere nicht um den herrschenden Konsens, wie ein Kinofilm mit Starbesetzung (er selbst in der Hauptrolle, dazu Martina Gedeck, Irm Hermann und Sarah Camp sowie – quasi als Hommage an seine künstlerische Heimat – die Theaterintendanten und -regisseure Thomas Ostermeier und Johan Simons) auszuschauen hat: Statt gefälliger Dramaturgie und Ausstattung wurde teils in Schwarz-Weiß, teils in Farbe gedreht. Schmeißfliegen surren, Säue quieken, Wagnerarien dräuen, Landmädchen tragen Perücken, Zeitebenen springen. Dazu gibt es jede Menge Leni-Riefenstahl-, Heiner-Müller- und Herbert-Achternbusch-Zitate.
Gastwirt oder Karriere als Opernsänger?
Die titelgebenden „Zwei Herren im Anzug“ sind allegorische Figuren, die ab und zu plötzlich im Bild sitzen. Als eine Art Schrumpfversion des griechischen Tragödien-Chores kommentieren sie milde lächelnd, wie die handelnden Personen vom Weltgeschehen durchgeschüttelt werden. Zwei Weltkriege, Lebenslügen, Bigotterie, Missbrauch – die ländliche Idylle gewährt keine Schonung, für niemanden. Vor allem nicht für die Hauptfigur Pankraz, den Wirtssohn, der von einer Karriere als Opernsänger träumt. Als sein älterer Bruder mit einem Kopfschuss aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt, gegen Juden hetzt und für unzurechnungsfähig erklärt wird, stellt der Vater den Jüngeren vor die Wahl: Entweder er übernimmt das Gasthaus oder er wird enterbt. Pankraz beugt sich, er heiratet die sanfte Theres (Martina Gedeck), bekommt einen Jungen, Semi, und wird dank Wirtschaftswunder wohlhabend. Oder zumindest „mittelreich“, wie der Romantitel andeutet. Glück, Zufriedenheit und Seelenruhe jedoch sind dem Patriarchen wider Willen nicht vergönnt.
Warum das Unglück diesen Koloss von einem Mann derart niederdrückt und die gesamte Familie in Mitleidenschaft zieht, das erzählt der Film in Rückblenden von 1984 aus. Der gealterte Seewirt hat gerade seine Frau beerdigt und die letzten Trauergäste verabschiedet. Am Tisch sitzt nur noch sein Sohn Semi, gespielt von Bierbichlers tatsächlichem Sohn Simon Donatz, und hält sich an Bier und Zigaretten fest. Auf seinen Vater ist der nicht gut zu sprechen, er fühlt sich ungeliebt, deutet dessen Schweigen als Ablehnung. Doch jetzt ist der Moment gekommen, den Alten zur Rede zu stellen. Und tatsächlich – Pankraz beginnt zu erzählen. Es drängt ihn geradezu danach, sein Innerstes nach außen zu kehren. Die Vergangenheit, sie lässt sich nun mal nicht abschütteln, die Erinnerung an die eigene monströse Schuld, sie kehrt zurück wie ein verfluchtes Erbe. Und die Zuschauer? Bleiben aufgewühlt zurück.