Schaltet man die Reality-Show „The Kardashians“ ein, bekommt man zum Beispiel solche Szenen zu sehen: Die Schwestern Kim und Kourtney Kardashian streiten, weil Kim eine Modenschau mit Dolce & Gabbana plant. Das italienische Modelabel hatte auch die Hochzeit von Kourtney ausgestattet. Hätte Kim deswegen den lukrativen Deal ablehnen müssen? Kourtney findet: ja. Kim findet: absolut nicht. Entsprechend herrscht dicke Luft im Land der extrem Reichen und sehr Relevanten. Moment, denkt man sich da. Mit einem selbst hat das alles herzlich wenig zu tun. Kann man die Kardashians tatsächlich bedeutsam finden? Sollte man? Es ist das Paradox dieser weltbekannten, irgendwie weltfremden Familie, dass man sie auch abbekommt, wenn man sie kaum kennt. Weil sie zu den mächtigsten Bildproduzentinnen unserer Zeit gehören. Und damit prägen, was Leute schön und wichtig finden.
Denn Kim Kardashian hat im vergangenen Jahrzehnt einen märchenhaften Aufstieg hingelegt: vom kalifornischen C-Promi zur mächtigen Geschäftsfrau mit direktem Draht ins Weiße Haus. Sie hat sich als Vorreiterin für alle möglichen Gegenwartsdinge positioniert, von unmöglichen Schönheitsstandards bis zur Dauerdokumentation des Alltäglichen. Und unfassbar viele Menschen sehen ihr dabei zu. Rechnet man diejenigen zusammen, die Kim und ihren Schwestern Kourtney, Kylie, Khloe und Kendall auf Instagram folgen, landet man – mögliche Doppelungen außer Acht gelassen – bei knapp 1,6 Milliarden Followern. Was rund 20 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Alle diese Menschen bekommen regelmäßig Updates aus dem Kardashian-Kosmos.
Das hat dazu geführt, dass Kim Kardashian mittlerweile selbst in den Feuilletons analysiert wird. Die britische Zeitung The Guardian bezeichnete sie als „kulturelles Hyperobjekt“ – eine Idee, die zu groß und zu vielfältig ist, um sie vollständig zu beschreiben. Versucht man es doch, lässt sich aufzählen: Sie ist die Mutter aller Influencerinnen. Die Königin des Selfies. Die Frau, deren Gesicht bei plastischen Chirurgen als gewünschtes Resultat vorgelegt wird. Zu sehen auf den Titelseiten von Vogue und Forbes. Die ehemalige Gattin von Kanye West, bis vor Kurzem einer der einflussreichsten Rapper überhaupt. Die Erfinderin einer sogenannten Shapewear-Kollektion, die gerade mit mehr als vier Milliarden Dollar bewertet wurde. Die Galionsfigur einer Zeit, die in die Darstellung des Selbst vernarrt ist.
ALLTÄGLICHES ZU KAPITAL GEMACHT
Aber der Reihe nach. Der Weg des Kardashian-Clans zum Mega-Ruhm begann schon vor einiger Zeit, nämlich kurz nach der Jahrtausendwende. Da waren sie eine Patchwork-Familie aus Los Angeles, wohlhabend, aber eben nicht prominent. Oder nur ansatzweise: Robert Kardashian, der Vater der älteren Kinder, hatte 1994 den Sportler O. J. Simpson verteidigt, dessen Mordprozess in den USA ein riesiges TV-Spektakel war. Also organisierte Mutter Kris Jenner sich eine Reality-Serie, die das Alltagsleben der Familie im Fernsehen aufrollte. Im Mittelpunkt stand meist Kim, die mit der Hotelerbin Paris Hilton befreundet war und einmal über ihre Jugend sagte: „Ich war so besessen davon, berühmt zu werden, dass es fast peinlich war.“ Für die Kameras packte man nun allerlei niedrigschwellige Probleme aus. Jemand gibt zu viel Geld für Modellflugzeuge aus? Kris sackt die Kreditkarte ein! Jemand traut sich nicht zum Zahnarzt? Das Gebiss wird unter Vollnarkose gerichtet.
Vermutlich wäre dieser oft bestürzend langweilige Content bald versandet, hätte sich am Horizont nicht das Aufkommen von Social Media abgezeichnet. Berühmt fürs Berühmtsein: So hat man Kardashians Geschäft oft genannt, wie die Web-Dokumentation „Kim Kardashian Theory“ von ARTE zeigt. Menschen mit ähnlichen Ambitionen hat es auch früher gegeben; man denke eben an Hilton, deren Kleiderschrank Kim Kardashian einst sortierte. Selten aber ließ sich aus dieser Idee eine langfristige Karriere stricken. Erst Kardashian hatte das richtige Timing. „Ohne Instagram wäre ihr Erfolg undenkbar gewesen“, sagt Meredith Jones, Professorin für Gender- und Kulturwissenschaften an der Brunel University in London, im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Sie und das neue Medium haben eine neue Art erfunden, ein Celebrity zu sein.“ Denn die sozialen Medien haben das Geschäft perfektioniert, in dem die Kardashians ohnehin schon steckten: das der Eigenvermarktung. Auf Instagram kann man Kim Kardashian etwa dabei zuschauen, wie sie in ihrer schlammfarbenen Küche einen Salat isst. Oder wie sie bei einer Pariser Modenschau ein Couture-Kleid trägt. Waren Stars früher Menschen, die Filme drehten oder Popsongs sangen, geht es nun um das, was Jones „viele kleine Momente“ nennt: Alltagsdinge. Oder das, was für Menschen wie die Kardashians eben Alltag ist.
In diesem Sinne hat Kardashian das Berühmtsein neu definiert, indem sie ihr Leben in strategischen Häppchen enthüllt – und es in Kapital ummünzt. Rückschläge, Triumphe, peinliche Fehden zwischen Geschwistern: Was einst als persönlich galt, wird nun öffentlich gemacht. Ob das echt ist, ist eigentlich egal. Vielleicht handelt es sich um eine Art berufliches Privatleben – erzeugt, um geteilt zu werden. So oder so. Mit absurdem Glamour, Drama und gelegentlicher Selbstironie hat Kim Kardashian ein Publikum um sich geschart. Es ist so groß, dass sie und ihre Familie längst ihr eigenes Wirtschaftsimperium sind. „Sie haben einen direkten Draht zu ihren Konsumenten“, sagt Emily Hund, Autorin des Buchs „The Influencer Industry“ (Princeton University Press, 2023), gegenüber dem ARTE Magazin. „Sie wissen, wie sie Aufmerksamkeit so lenken können, dass es für sie von Vorteil ist.“ Will Kim Kardashian eine neue Pflegecreme auf den Markt werfen, braucht sie keine Magazine, die sie bewerben. Sie postet einfach selbst. Ein paar Minuten später sind die Produkte ausverkauft.
Ich war so besessen davon, berühmt zu werden, dass es fast peinlich war
ZU GAST IN HARVARD
Man könnte also zu dem Schluss kommen, dass Kim Kardashian die Gegenwart ziemlich gut verstanden hat. Oder, kulturpessimistischer: dass ihr ungenierter Materialismus Ausdruck einer Welt am Abgrund ist. Ganz sicher hat sie deren Drang zum Wandel verinnerlicht. Da sind zum Beispiel die Gesichter und Körper der Kardashians, die dank diverser Eingriffe immer einheitlicher werden. Auch Image und Beschäftigung sind flexibel. Nachdem Kims Stil lange als geschmacklos galt, reißen sich Designer heute darum, sie einzukleiden. Sie bildet sich in Jura fort und engagiert sich für Gefängnisreformen. In Harvard darf sie über ihre Geschäftserfolge sprechen. Demnächst spielt sie die Hauptrolle in einer Netflix-Komödie. Es scheint, als sei Kim Kardashian nun wirklich überall. Und als hätte sie erreicht, was sie immer wollte: Sie ist klassisch berühmt. Nicht nur online. Sondern ganz altmodisch.
Die Kardashians wissen, wie sie Aufmerksamkeit so lenken können, dass es für sie von Vorteil ist