Eindringlich wandte sich Thomas Haldenwang, seit 2018 Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), im März an die Öffentlichkeit: „Dies ist eine Warnung an alle Feinde der Demokratie. Wir stehen zusammen und handeln. Heute teile ich Ihnen mit, dass wir den ‚Flügel‘ als erwiesen extremistische Bestrebung eingestuft haben.“ Haldenwang verkündete so die Beobachtung der rechtsradikalen Strömungen in der AfD. Seitdem sehen ihn viele als Hoffnungsträger, der, im Gegensatz zu seinem umstrittenen Vorgänger Hans-Georg Maaßen, Gefahren von rechts erkennt und angeht. Maaßen, der von 2012 bis 2018 an der Spitze des Inlandsgeheimdienstes stand, war unter anderem abberufen worden, nachdem er die Echtheit von Bildern über rechtsextreme Hetzjagden auf Migranten in Chemnitz angezweifelt hatte.
Haldenwangs Kampfansage an die Verfassungsfeinde ist der Versuch, das Vertrauen in die Arbeit des BfV wiederherzustellen. Das hatte besonders im Zuge der Enthüllungen rund um den NSU-Terror gelitten. Denn als 2011 bekannt wurde, dass Neonazis unter dem Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ für eine jahrelange Mordserie an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund verantwortlich waren, stand das Land unter Schock. Wieso hatte der Verfassungsschutz, dessen Aufgabe die Abwehr von Angriffen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist, die Taten nicht nur nicht verhindert, sondern mit dem Schreddern wichtiger Akten geradezu vertuscht? Kann es tatsächlich sein, dass 40 V-Leute im Umfeld des NSU nichts bemerkt hatten?
Besonders die Untätigkeit der Behörde in Bezug auf rechtsterroristische Netzwerke wurde zum Thema, zumal ihr Eifer gegenüber linken Aktivitäten unübersehbar war: So kam etwa Anfang 2012 heraus, dass der Verfassungsschutz 27 Bundestagsabgeordnete der Linkspartei beobachtete. Deren damaliger Fraktionschef Gregor Gysi attestierte dem BfV daraufhin eine „schwere Meise“. Er stellte klar: „Der Bundestag soll die Geheimdienste kontrollieren, nicht umgekehrt.“
GAU für den Rechtsstaat
Ein weiterer prominenter Kritiker der Behörde, die 1950 mit Sitz in Köln gegründet wurde, ist der Jurist und Journalist Heribert Prantl, der auch im ARTE-Dokumentarfilm „Früh.Warn.System: Brauchen wir diesen Verfassungsschutz?“ zu Wort kommt. Was er vom BfV hält, machte der langjährige Leiter des Ressorts Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung bereits 2014 in seiner Streitschrift „Wer schützt die Verfassung vor dem Verfassungsschutz?“ deutlich. Darin skizzierte er die Skandal- und Versagensgeschichte des Inlandsgeheimdienstes, der neben dem Bundesnachrichtendienst (BND) und dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) zu den drei deutschen Nachrichtendiensten gehört. Ein außer Kontrolle geratener Sicherheitsapparat, so Prantls Argumentation, sei ähnlich einem Reaktorunfall ein GAU – in diesem Fall für den Rechtsstaat. Wie ein defektes Atomkraftwerk müsse der Dienst dementsprechend abgeschaltet werden. Stattdessen sei er jedoch immer wieder mit mehr Kompetenzen ausgestattet worden. Im Gespräch mit dem ARTE Magazin betont Prantl, dass das Versagen des Verfassungsschutzes im Kampf gegen rechts nicht zuletzt das Klima für die jüngsten Fälle von rechtsradikalem Terror geschaffen habe: den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, die Morde in Hanau und in Halle oder die aktuellen Drohbriefe des sogenannten NSU 2.0.
Unverständnis äußert der Verfassungsschutzexperte vor allem über den Mangel an Kontrolle der Geheimdienste. Diese bezeichnet er als „Eisberge der Demokratie“. Neun Zehntel würden unter Wasser liegen und das, was rausschaue, werde kaum genauer betrachtet. Tatsächlich obliegt die parlamentarische Überwachung der drei Nachrichtendienste zwei dünn besetzten Organen: dem Parlamentarischen Kontrollgremium, dem neun Mitgliedern angehören, und der G-10-Kommission, die vier Mitglieder hat.
Eine Lösung könnte ein Geheimdienstbeauftragter sein, der die Arbeit der Nachrichtendienste kontrolliert und an den Bundestag berichtet. Auch eine Reform der Einstellungspolitik könnte helfen: „Es dürfen nicht nur Juristinnen und Juristen in die Behörde, sondern Demokratinnen und Demokraten, die die Verfassung lieben“, meint Prantl. Das BfV hält er für verzichtbar. Dessen Aufgaben könnten ebenso Polizei und Justiz übernehmen – mit gesellschaftlicher Unterstützung: „Mir fallen viele Bürgerinitiativen und Organisationen ein, die die Verfassung besser schützen. Das fängt bei ‚Pro Asyl‘ an und hört bei der ‚Caritas‘ nicht auf.“ Sein Fazit: „Gerade in Zeiten von Corona wird angesichts der vielen radikalen und seltsamen Menschen, die auf Demonstrationen gegen die Pandemie-Maßnahmen mitmischen, klar: Der wahre Verfassungsschutz kann nicht von einer Behörde kommen, sondern von einer wachsamen Zivilgesellschaft.“
Geheimdienste sind die Eisberge der Demokratie: Neun Zehntel liegen unter Wasser