Ignacio ist ein Engel mit einem Schwanz. Das ist die zotige Pointe in Pedro Almodóvars Film „Schlechte Erziehung“ (2004). Das große Thema des sexuellen Missbrauchs an Kindern durch Vertreter der Kirche wird in diesem Film an einer schillernden Figur erfahrbar: Ignacio möchte als Angel angesprochen werden und er will unbedingt eine Frau namens Zahara spielen. Die gebrochenen Identitäten verweisen zurück auf eine Zeit, in der ein Priester und Literaturlehrer sich eines jungen Mannes bemächtigte: In einem Internat in den 1960er Jahren erfuhr Ignacio seine „schlechte Erziehung“, seine „mala educación“, wie das Werk im Original heißt. In den 1970ern verschaffte er sich als Transvestit und Drogensüchtiger eine gefährliche Freiheit. Nun ist die Zeit für eine Abrechnung gekommen. Aber wer ist Ignacio, gespielt von dem mexikanischen Star Gael García Bernal, wirklich?
Die Vergangenheit ist in den Filmen des vielfach prämierten spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar nicht nur nie vergangen, sie verschafft sich immer wieder eine körperliche Präsenz, indem sie das Leben von Menschen buchstäblich über den Haufen wirft. Die vielen Facetten der Sexualität, wie hetero, homo, trans, sind für ihn keine Alternativen. Sie sind Formen des Übergangs zwischen damals und heute, zwischen Kindheit und Gegenwart, zwischen Trauma und Therapie, zwischen Lust und Behinderung. Manchmal sogar zwischen Leben und Tod. Almodóvar ging selbst in eine katholische Schule, und zwar tatsächlich etwa in jenen Jahren, von denen er in „Schlechte Erziehung“ erzählt. Aber es wäre verfehlt, seinen Film (nur) autobiografisch zu lesen. Denn der bedeutendste spanische Filmemacher der letzten 40 Jahre ist selbst so einer wie Ignacio: ein Gestaltwandler, dem das Kino die Möglichkeiten gibt, immer wieder in neue Geschichten zu schlüpfen und sich in ihnen so zu verstecken, dass sich ein ganzes Land darin wiedererkennen kann.
Die Spur führt zurück zum Schmerz
Und längst auch ein ganzer Kontinent, der noch dazu für eine gefährdete Gesellschaftsform steht: das freie, liberale Europa. In „Sprich mit ihr“ (2002) beginnt die Geschichte zweier Männer – beide lieben auf ihre Weise eine Frau, die sich im Koma befindet – mit einer Tanzinszenierung von Pina Bausch. In „Julieta“ (2016) erfährt eine Frau just in dem Moment, in dem sie von Madrid nach Portugal ziehen will, dass ihre verschwundene Tochter in Italien lebt. Die Netzwerke über den Kontinent führen immer zu einem Kern zurück. Es gibt eine Zeit im Leben, in der ist alles offen, und dann gibt es eine Zeit, in der ist manchmal nur noch eines offen: die große Wunde, die das Leben geschlagen hat. Und so ist der Film „Julieta“ ein Spiel mit diesem zentralen Motiv des Melodrams und der Psychoanalyse: Die Spur führt immer zurück zum Schmerz. Der Schmerz aber birgt das höchste der Gefühle, die wahre, große Liebe oder zumindest die unvergessliche Leidenschaft.
Pedro Almodóvar hat mit seinen Filmen selbst eine Bewegung vollzogen, die er in „Julieta“ rückwärtsgewandt wieder aufgreift: Der heute 69-Jährige begann seine Arbeit als Filmemacher just in dem Moment, in dem ein rückständiges, durch Autokratie aufgehaltenes Land kopfüber in die Freiheit sprang. 1975 starb der Despot Franco nach fast 40 Jahren Herrschaft; 1977 gab es zum ersten Mal seit 1936 wieder freie Wahlen. Die Kultur war der Transición, der Übergangszeit von Franquismus zu Demokratie, voraus. Sie löste die Versteinerung in überschwängliche Bewegung auf. Diese „movida“ fand in dem frühen Almodóvar ihren herausragenden Vertreter. „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ (1988) ist ein Filmtitel, der sprichwörtlich geworden ist: euphorischer Lebensgenuss bis an den Rand der Hysterie. Eine der Schauspielerinnen damals war Rossy de Palma, sie blieb über viele Jahre eines der markantesten Gesichter im Almodóvar-Universum. In „Julieta“ spielt sie eine eisige Haushälterin.
Meister des Melodrams und der Moderne
Das Melodram ist das Filmgenre, in dem die Gefühle mit einer Welt abgeglichen werden, die dafür eigentlich zu klein ist. Gerade dieses Missverhältnis hat Almodóvar zu einem der großen Filmemacher werden lassen. Er ist, wie auf eine ganz andere Weise vielleicht nur noch Lars von Trier, dazu in der Lage, die inneren Welten mit den äußeren zu verknüpfen; aber während der manisch-depressive Skandinavier für die äußeren Welten ins Mythologische und Archaische ausgreift, ist Almodóvar auch ein Chronist der modernen Lebenswelten. Bei ihm sehen die Wohnungen in Madrid und Barcelona, die Straßenecken und Verlagsbüros immer so aus, als hätten sie von fern noch mit den künstlichen Welten zu tun, in denen das Melodram einmal seine eigentliche Heimat hatte: in Hollywood in den Jahren des Studiokinos zwischen 1930 und 1950. Von der Künstlichkeit dieser Welten weiß Almodóvar so viel, dass er sie immer wieder zu Orten der wahren Empfindung machen kann.
Seine Position eines Vertreters des modernen europäischen Autorenfilms – und nicht des klassischen Hollywood – bringt es mit sich, dass er von Beginn an nach anderen sozialen Formen als denen der konventionellen Familie gesucht hat. In seinen Filmen ging es immer schon darum, die Wahl eines Lebensmenschen in Gruppenbildungen und Freundschaftsmodelle aufzulösen. Auch in sexueller Hinsicht geht es ihm nicht um die wahre Identität, sondern um die Verbindungen, die sich aus der Suche ergeben. Dabei lässt Almodóvar seine Figuren alles ausprobieren, was im weitesten Sinn bis zur Perversion oder bis zu einem Missverständnis als Perversion reichen kann: In „Matador“ (1986) führte er Stierkampf, Machismo und Impotenz zusammen, in „Labyrinth der Leidenschaften“ (1982) gab es schon einen schwulen, islamischen Terroristen, als das Thema noch kaum begriffen war, in „Fessle mich“ (1989) sollte eine Pornodarstellerin zu ihrem Glück gezwungen werden und in „Kika“ (1993) belebte eine Kosmetikerin eine Leiche wieder. Der frühe bis mittlere Almodóvar machte Filme, die schrill und bunt waren wie ein ewiges Kinderfernsehen, in dem sich die Neurosen der Großen breit machten. Er wird häufig als Stilist verehrt, als einer, der dem Autorenkino die Ästhetik zurückgab, der schwule Sensibilität für ein großes Publikum zugänglich machte und die Hollywood-Tradition der „women’s pictures“ in die Postmoderne überführte.
Seine reife Phase begann 1995 mit „Mein blühendes Geheimnis“ mit Marisa Paredes in der Hauptrolle. Er hielt vielen seiner Darstellerinnen die Treue, konzentrierte sich nun aber stärker auf deren individuelle Qualitäten. Seither reiht er eine große Frauenrolle an die andere, mit einem Ensemble, das bis in die USA reicht. In „Volver“ etwa spielte Penélope Cruz 2006 das Bewegungs-Motiv aus Almodóvars Gesamtwerk noch einmal ganz ernsthaft durch: „Zurückkehren“ lautete hier das Motto. Am „jungen“ Spanien, das er verkörpert, lässt sich besonders gut erkennen, wie eine Gesellschaft über einen Überschuss an Individualität und Libertinage hinweg neue Traditionen schaffen kann. Es ist diese Bewegung, die in schillernder Prägnanz deutlich macht, was es heißt, in Europa zu leben, wo es alle Freiheiten gibt und die Frage nach Verbindlichkeiten eine der Wahl ist.