Als Talal Derki in einer Berliner Wohnung zum Interview empfängt, fallen sofort bunte Kinderkleidung und Spielzeug ins Auge. Die Kinder, deren brutalen Alltag der syrische Regisseur in seinem preisgekrönten Dokumentarfilm „Of Fathers and Sons: Die Kinder des Kalifats“ porträtiert, hantieren dagegen mit Waffen. Was hat Talal Derki zurück in seine umkämpfte Heimat getrieben? Ein Gespräch über einen gefährlichen Undercover-Dreh im Haus eines Dschihadisten, über Kindheit im Krieg und den syrischen Albtraum.
Herr Derki, für Ihren Film haben Sie sich von Ihrer Frau und Ihrem Sohn verabschiedet und sind vom sicheren Berlin nach Nordsyrien gereist, ein Gebiet, das von einem Al-Qaida-Ableger kontrolliert wurde. Warum?
Talal Derki: Für meinen vorherigen Dokumentarfilm „The Return to Homs“ hatte ich junge Aktivisten bei ihrem Widerstand gegen das Assad-Regime begleitet und dabei eine schreckliche Entwicklung beobachtet: den Aufstieg des Dschihadismus. Während sich die Truppen der Regierung von Baschar al-Assad und oppositionelle Gruppen bekämpften, haben die Dschihadisten die Früchte geerntet. Immer mehr Menschen haben sich radikalisiert. Väter haben ihre Söhne zu religiösen Fanatikern erzogen. Dies ging mir nicht mehr aus dem Kopf.
Was wollten Sie verstehen?
Talal Derki: Die Funktionsweise von Gehirnwäsche. Gleichzeitig wollte ich die Unschuld und Ausweglosigkeit der Jungen zeigen. Sie können nicht entkommen. Ihr Schicksal ist es, Kämpfer des Kalifats zu werden.
Eine Dschihadisten-Familie für diesen Zweck zu finden, muss sicherlich ein extrem schwieriges Unterfangen gewesen sein.
Talal Derki: Zum Glück bin ich in Syrien gut vernetzt. Ich habe einige Kameraleute bei der Suche nach geeigneten Kindern um Hilfe gebeten und angeboten, den Finder zum Kameramann des Films zu machen und zwei Jahre lang zu bezahlen. Einer von ihnen hat dann meinen Protagonisten, den zwölfjährigen Osama, in einem Scharia-Camp westlich von Aleppo ausfindig gemacht. Der Film handelt von seinem Alltag und dem seiner jüngeren Brüder.
Wie haben Sie den Familienvater Abu Osama überzeugt, mitzumachen?
Talal Derki: Er war Mitglied der Terror-Miliz Al-Nusra, einer Abspaltung von Al-Qaida. Ich habe mich ihm als Journalist und Kameramann vorgestellt und so getan, als würde ich mit den Ideen der Extremisten sympathisieren und deswegen ihren Alltag dokumentieren wollen.
Hatten Sie nicht ständig Angst, aufzufliegen?
Talal Derki: Schon, aber ich war gut vorbereitet. Verfängliche Informationen über mich hatte ich zuvor aus meinen sozialen Profilen gelöscht. Mein vorheriger Film war regierungskritisch, deswegen schöpfte niemand Verdacht.
Sie und ihr Kameramann begleiten die Kinder beim Training in einem Militär-Camp und im Alltag zu Hause. Auch wenn weder Blut noch Tote zu sehen sind, zeigt der Film unfassbare Brutalität. Die Jungen spielen mit Sprengstoff und Minen. In einer Szene köpft das jüngste Kind ein Vögelchen. „So wie du es mit dem Mann getan hast, Papa.“
Talal Derki: Sie machen ihren Vater nach und suchen sich ein leichtes Opfer, genauer: ein schwaches. In diesem Fall den Vogel.
Glauben Sie, dass Osama und seine Brüder dennoch glückliche Kinder sind?
Talal Derki: Ich denke schon. Sie kennen ja nichts anderes. Für sie ist dieses Leben normal. Das Training im Camp finden sie zwar hart, aber auch reizvoll. Religion interessiert sie dabei gar nicht, sie finden es toll, mit Waffen zu schießen.
Man sieht Abu Osama die Jungs küssen. Er scheint sie auf seine Weise zu lieben.
Talal Derki: Sicher. Nur liebt er seine Religion noch mehr und ist bereit, die Kinder für seinen Glauben zu opfern.
Grausam sind auch die Bilder einer Gruppe Männer, die vom Vater und seinen Mitstreitern gefangen genommen werden. Ganz besonders, als die Kamera aus der Nähe das Gesicht eines weinenden Gefangenen einfängt.
Talal Derki: Diese Situation zeigt die Absurdität des Krieges. Die Männer werden von Assads Armee einfach irgendwo aufgesammelt und zum Kämpfen gezwungen. Dann werden sie von Islamisten gefangen, die einst selbst Gefangene waren. Dennoch hatte diese Szene auch etwas Positives. Eine Mutter, die den Film sah, meldete sich bei mir. Sie erkannte ihren verschollenen Sohn auf den Bildern wieder und bedankte sich. Auch wenn er und die meisten anderen getötet wurden, hatte sie endlich Gewissheit.
Wie reagierte Abu Osama, als er im Nachhinein die Wahrheit über Ihren Film erfuhr?
Talal Derki: Er hat ihn nie gesehen, war aber natürlich wütend, als er mich in Interviews sah.
Was ist aus ihm geworden?
Talal Derki: Er starb im Oktober 2018 bei einem Bombenanschlag verfeindeter Islamisten.
Und aus den Kindern?
Talal Derki: Ich weiß es nicht, hoffe aber, dass sie nach dem Tod des Vaters freier sind.
Was nehmen Sie neben der Brutalität, mit der die Kinder indoktriniert werden, noch aus Ihrer Erfahrung in Syrien mit?
Talal Derki: Einerseits habe ich gesehen, wie eng die dschihadistische Ideologie mit patriarchalen Strukturen zusammenhängt. Im Kern geht es diesen Männern weniger um Religion als um ihre Dominanz. Andererseits wurde wieder klar: Jeder Krieg stärkt Extremisten – überall in der Welt, unabhängig von Religion.
Werden Sie nach Syrien zurückkehren?
Talal Derki: Nein, zurzeit nicht. Ich werde jetzt nicht nur von den Geheimdiensten der Regierung gesucht, sondern auch von Dschihadisten.
Zu Beginn des Films sagen Sie, dass Ihr Vater Sie als Kind lehrte, ihre Albträume aufzuschreiben, damit sie nicht wiederkehren. Haben Sie das mit diesem Film bezweckt?
Talal Derki: Ja, ich wollte quasi meine Albträume vom Syrienkrieg mit der Kamera festhalten und so vertreiben. Aber erst gestern wurde ich wieder im Schlaf vom Grauen verfolgt.