Als Teil des skandinavischen Literatur- und Filmgenres Nordic Noir fesseln dänische Serien weltweit das Fernsehpublikum: darunter die Kriminalfälle der „Kommissarin Lund“ (ab 2007), die in den USA und der Türkei sogar neu verfilmt wurden, das Politdrama „Borgen“ (ab 2010), das in mehr als 70 Ländern lief, sowie „Die Erbschaft“ (ab 2014). Mit Einschaltquoten von bis zu 60 Prozent fegten die Serien erst Dänemarks Straßen leer und avancierten dann zum internationalen Hit. Ein weiterer Coup aus Dänemark heißt „Dicte“ (ab 2013): Die drei Staffeln der Krimiserie, produziert für das dänische Fernsehen, sind ab Juli in der ARTE Mediathek zu sehen. Stellt sich die Frage: Was ist das Erfolgsrezept der Dänen, deren Land gerade einmal sechs Millionen Einwohner hat und trotzdem andauernd Serien hervorbringt, die Fernsehgeschichte schreiben?
Ein Erfolgsfaktor, so die Medienwissenschaftlerin Lea Gamula im Gespräch mit dem ARTE Magazin, sei die dramaturgische Mehrdimensionalität der Geschichten. „Dänische Serien folgen oft einer Doppelstruktur: Es gibt eine Geschichte, die emotional überzeugt, und eine zweite Ebene, auf der gesellschaftliche Strukturen und Missstände reflektiert werden.“ So auch in „Dicte“: Die Titelheldin Dicte Svendsen (Iben Hjejle) kehrt nach ihrer Scheidung in ihre Heimat Aarhus zurück und nimmt eine Stelle als Kriminalreporterin an. Gleichzeitig verfolgt sie ein privates Anliegen: Ihre Eltern – Anhänger der Zeugen Jehovas – zwangen sie mit 16 Jahren, ihren Sohn zur Adoption freizugeben. Jetzt will sie ihn finden. Ihre investigative Arbeit verwickelt Dicte immer wieder in Kriminalfälle rund um Kindesmissbrauch und Fanatismus. Dabei wird eine entscheidende Logik von dänischen Serien deutlich: Um ein Verbrechen zu begreifen, muss man auch den ethischen und moralischen Zustand der Gesellschaft verstehen. Anders als klassische Krimis fragen dänische Produktionen nicht nur: „Wer war es?“, sondern: „Wie konnte es so weit kommen?“ So zeichnen sie oftmals ein komplexes Gesellschaftsporträt, das mit der Illusion der heilen skandinavischen Welt bricht.
Offenbar tragen auch die Produktionsbedingungen in Dänemark zum Erfolg der Fernsehserien bei: Die kreativen Voraussetzungen der dänischen TV-Landschaft seien sehr gut, sagt Medienwissenschaftlerin Gamula. „Autorinnen und Autoren werden im Vergleich zu Deutschland mehr Freiheiten und größeres Vertrauen eingeräumt. So entstehen originellere und mutigere Stoffe.“ Ähnlich wie in den USA hätten die Drehbuchschreibenden ein hohes Ansehen innerhalb der Branche. „Die Komplexität und dramaturgische Raffinesse nordischer Serien im Vergleich zu anderen TV-Thrillern resultiert vor allem aus den hervorragenden Drehbüchern.“ Darüber hinaus haben die Dänen früh das Konzept des sogenannten Writers’ Room aus den USA adaptiert, in dem Autorinnen und Autoren zusammen mit Produzentinnen und Produzenten in einer Art Schreibwerkstatt kollektiv zusammenarbeiten. So wird klargestellt, dass die entscheidenden Köpfe einer Serie stets eine gemeinsame Vision verfolgen.
SO KLEIN, SO KREATIV
Aufgrund der überschaubaren Medienlandschaft in Dänemark mussten die dortigen Serienmacher kreativ werden: Um auch größere Projekte finanzieren zu können, setzten sie auf Koproduktionen innerhalb der skandinavischen Länder – und zum Teil auch mit den deutschen Nachbarn. Dabei konzentrierten sich die Dänen meist auf wenige, aber dafür qualitativ hochwertige Serien, wobei cineastische Einflüsse eine große Rolle spielten: „In einem so kleinen Land sind die Interdependenzen und Durchlässigkeiten zwischen den verschiedenen Branchen wichtig. In Sachen Produktion sind Theater, Film und Fernsehen nicht klar voneinander getrennt“, sagt Gamula.
Nordic-Noir-Fans, denen Dänemark auf Dauer doch zu eng wird, haben leichtes Spiel: Denn auch in Finnland („Bordertown“, 2016), Norwegen („Verschwunden in Lørenskog, 2022) und Schweden („Iris: Die Wahrheit“, 2023) werden regelmäßig erstklassige Krimiserien produziert.