Er ist ein Wandler zwischen den Welten – der Münchner Philipp Mattheis hat als Korrespondent aus China und der Türkei berichtet. In seinem neuen Buch behandelt er ein Thema, das beide Länder verbindet: die Uiguren, eine turksprachige Ethnie, die hauptsächlich in der Region Xinjiang im heutigen China siedelt. Sie gehört nahezu komplett dem Islam an und führt Traditionen fort, die ihre Ursprünge in Zentralasien haben. Dass die Uiguren China und die Türkei geschwisterlich verbinden, ist vielen Türken präsent. In seinem Buch „Ein Volk verschwindet: Wie wir China beim Völkermord an den Uiguren zuschauen“ berichtet Mattheis, es könne einem passieren, dass gebildete Gesprächspartner von der türkischen Frühgeschichte schwärmen, von versunkenen Großreichen in Zentralasien und der Verwandtschaft aller Turkvölker vom Bosporus über Sibirien bis in die Mongolei. Gegenwärtig ist von den Gemeinsamkeiten jedoch wenig zu spüren: Die Uiguren sind Opfer brutaler Unterdrückung. Wie weit sie reicht, das thematisiert auch die Dokumentation „China: Das Drama der Uiguren“, die ARTE im Februar zeigt.
Völkermord, das ist ein Vorwurf, der belegt sein will – zumal in Deutschland, dem Land, das den Holocaust verantwortet. Doch über das, was den Uiguren angetan wird, besteht international keine Einigkeit. Die USA verurteilen die von den Vereinten Nationen (UN) dokumentierten Menschenrechtsverbrechen an den Uiguren als Genozid, auch die Parlamente Kanadas und der Niederlande tun das. Deutschland tut es nicht. Als im vergangenen Jahr der Menschenrechtsausschuss des Bundestags Experten einlud, die Frage zu diskutieren, lautete die Einschätzung: Um von einem Völkermord zu sprechen, bedürfe es einer Zerstörungsabsicht. Und die gäbe es in China nicht. Heißt im Klartext: Peking will die Uiguren nicht vernichten. Solche Debatten klingen für Mattheis nach akademischem Elfenbeinturm. „Fakt ist, dass die chinesischen Behörden gezielt Geburten verhindern, indem sie Frauen zwangssterilisieren und zu Abtreibungen drängen“, sagt er im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Das Volk verschwindet. Deswegen sprechen viele von einem kulturellen Völkermord.“
Dabei ist es gar nicht so einfach, bei den Uiguren von einem Volk zu sprechen. Denn die Angehörigen der Ethnie bezeichnen sich wohl erst seit rund 100 Jahren als Uiguren. Die Bewohner des Tarimbeckens, der größten Beckenlandschaft Zentralasiens, definierten sich traditionell über ihren Glauben – und nicht über die ethnische Zugehörigkeit. Erst in den 1930er Jahren entstanden politische Bewegungen, die das heutige Nationalbewusstsein hervorbrachten.
Auch zu China gehört das uigurische Siedlungsgebiet noch nicht lange. Erst im 18. Jahrhundert eroberten Truppen der Qing-Dynastie die Region. Vorher befand sich das chinesische Kaiserreich jahrhundertelang im Abwehrkampf mit dem Reitervolk der heutigen Uiguren. Warum, so stellt sich die Frage, unterdrückt die 1949 gegründete Volksrepublik die Uiguren? „Der chinesische Parteistaat hat ein Problem mit kultureller Andersartigkeit“, sagt Mattheis. „Alles, was kulturell von der Han-chinesischen Norm abweicht, ist ihm suspekt.“ So nutzte Peking bereits die Kulturrevolution unter Mao Zedong, um die Andersartigkeit im Land zu reduzieren: Wer als „bürgerlich“ galt, den schickte man für harte körperliche Arbeit und zur politischen Umerziehung nach Xinjiang. Damit wurde die demografische Struktur der Region dramatisch verändert. Heute leben bei einer Gesamtbevölkerung von 26 Millionen Menschen etwa zwölf Millionen Uiguren und etwa acht Millionen Han-Chinesen in Xinjiang.
Schulen werden zu Gefängnissen
Mattheis führt den Auslöser der heutigen Gräueltaten auf das Zusammenwirken verschiedener Faktoren zurück. Zum einen habe die Volksrepublik mit dem Terrorangriff vom 11. September 2001 in den USA und dem amerikanischen „War on Terror“ eine Lehrstunde darin erhalten, welche Reaktionen denkbar seien gegenüber „terroristischen Feinden“. Zum anderen sei es seit 2009 tatsächlich immer öfter zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Uiguren und Chinesen gekommen. Schließlich habe Xinjiang auch durch das Großprojekt „Neue Seidenstraße“ an geopolitischer Bedeutung gewonnen. Ziel dieser durch Chinas Nordwesten verlaufenden Infrastrukturmaßnahme ist es, ein Handelsnetz zwischen der Volksrepublik und mehr als 60 Ländern in Afrika, Asien und Europa zu knüpfen.
2016 machte Peking Chen Quanguo zum Parteisekretär von Xinjiang. Der Hardliner hatte seine repressiven Methoden zuvor in Tibet erprobt. Chen schuf massenhaft neue Stellen in den Sicherheitsbehörden und begann, die Uiguren mit DNA-Proben zu erfassen. 2016 ließ er zunächst Schulen und öffentliche Gebäude in Gefängnisse umfunktionieren. Kurz darauf ließ er großflächig Umerziehungslager errichten. Nach einem Bericht der UN aus dem Jahr 2018 sind etwa eine Million Uiguren in den Lagern interniert. Philipp Mattheis, der Chen „den Architekten des Alptraums“ nennt, unterstreicht, wie sehr die Recherche für sein Buch seinen Blick auf die Menschenrechtsverbrechen verändert hat. Es sei für ihn heute völlig klar, dass man von einem Völkermord sprechen müsse. Die Untätigkeit der deutschen Politik, aber auch von Unternehmen wie Volkswagen, das eine Fabrik in Xinjiang betreibt, ist vor diesem Hintergrund schwer zu verstehen.