Ein athletisch-drahtiger Mann springt seinem Gegner entgegen, die Fußsohle angespannt auf ihn gerichtet. Der Bewegungsradius seiner Gliedmaßen wirkt überirdisch. Mit spitzen Schreien unterlegt er jeden seiner Schläge. Ein klassischer Bruce Lee (1940–1973)! Die Filme des Kampfkünstlers, den ARTE im Oktober porträtiert, sind ikonisch und brutal. Im bis heute indizierten „Die Todeskralle schlägt wieder zu“ (1972) choreografierte er mit dem amerikanischen Karateweltmeister und Schauspieler Chuck Norris Kämpfe, die in die Filmgeschichte eingingen. So sehr Bruce Lee als unkaputtbarer Gegner gefeiert wurde – jenseits der Leinwand vertrat er andere Werte: Er sprach gerne über seine Liebe zur Philosophie des chinesischen Kampfsports und den Einklang zwischen Körper und Geist.
BEWUSSTE INNERE RUHE
Anders als Karate oder Judo gilt Kung-Fu nicht als eigenständige sportliche Disziplin. Tatsächlich ist es ein Oberbegriff für verschiedenste chinesische Kampfkünste. Auf Mandarin ist das namensgebende Wort „gongfu“ Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs und bedeutet so viel wie Arbeit oder Mühe – ganz ohne athletischen Bezug. Im China des 10. bis 17. Jahrhunderts wurde der Begriff besonders durch Weltanschauungen geprägt, etwa Neokonfuzianismus, Daoismus und Buddhismus. Es handelt sich um ein Konzept der allgemeinen Lebensführung. Nach diesem Verständnis kann Kung-Fu in jede Tätigkeit einfließen – beispielsweise in die Zubereitung von Mahlzeiten oder ins Schreiben. Das übergeordnete Ziel dabei: eine Sache mit vollem Bewusstsein und innerer Ruhe bewältigen. „Geduld ist nicht passiv zu bewerten, im Gegenteil, sie ist konzentrierte Stärke“, ist nur eine der vielen Weisheiten, mit denen Bruce Lee die Grundlagen seiner Lehre vermittelte. Erst wer die Gelassenheit in seinen Alltag einbaue, sei in der Lage, auch seine körperliche Leistung im Kampfsport zu entfalten.
DIE ABGEFANGENE FAUST
Weil sich Kung-Fu bei vielen Kampfsportarten und Techniken bedient, unterscheidet sich der individuelle Stil von Meister zu Meister, stets mit Blick auf die jahrhundertealte Tradition. Auch Bruce Lee fand einen eigenen Stil: Sein Kung-Fu war auf größtmögliche Effizienz ausgelegt. Er kombinierte die östlichen Traditionen mit Elementen westlicher Kampfkünste, zum Beispiel Kickboxen oder Fechten. Lees Stil wird als Jeet Kune Do bezeichnet, was so viel bedeutet wie „der Weg der abfangenden Faust“. „Bruce Lee war nicht nur Kampfsportler, sondern auch Schauspieler. Seine Bewegungen mussten deshalb optisch immer etwas hermachen“, sagt Irmgard Enzinger. Als Sinologin forscht sie unter anderem zu chinesischer Philosophie. „Er hat Elemente wie den Trittsprung zum Beispiel aus dem Taekwondo übernommen, das hatte im Wing Chun Kung-Fu noch gefehlt.“ Über die ästhetische Seite im Kampfsport wurde Lee auch von seinem Vater unterrichtet, der als kantonesischer Operndarsteller selbst akrobatische Fähigkeiten besaß. „Der Verzicht auf starre Regeln und die daoistische Modernität in Bruce Lees Stil machten Kung-Fu später auch für den Westen der Welt so attraktiv“, betont Enzinger.
FLIESSENDE LEHRE
Bruce Lees Kampfkunsttechnik Jeet Kune Do sollte nicht als Stil, sondern mehr als ein Prinzip verstanden werden. Er selbst studierte an der University of Washington unter anderem Philosophie und Psychologie. Zeitlebens versuchte er, die Tiefen des menschlichen Potenzials zu erforschen. Inspiration holte Lee sich dafür meist in der Natur, woraus sein wohl berühmtestes Zitat resultierte: „Be water, my friend“ („Sei Wasser, mein Freund“). Dem Wasser schrieb er die stärkste natürliche Kraft zu: widerstandsfähig und in sich ruhend. Sein größtes Ziel war es, Kung-Fu für jedermann zugänglich und verständlich zu machen – auch außerhalb Asiens. Für das China der 1960er Jahre ein unkonventioneller Weg: „In der chinesischen Tradition war das Erlernen einer Kampfkunst nur denen vergönnt, die in einer Familie von Kampfkunst-Meistern aufwuchsen oder, in seltenen Fällen, von einem Meister auserwählt wurden“, sagt Irmgard Enzinger. „Zu Lees Zeit galt es als unangemessen, Menschen eines anderen Kulturkreises in die Praxis einzuweihen.“
DER SPRUNG IN DEN WESTEN
Allein im Zeitraum von 1971 bis 1973 wurden etwa 300 Kung-Fu-Filme in Hongkong produziert. Die vier vollendeten Werke von Bruce Lee standen dabei im Zentrum dieser Welle. Sie revolutionierten das Genre des Kampfsportfilms, indem sie ihm Glaubwürdigkeit und Authentizität verliehen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Kung-Fu oder andere Kampfkünste höchstens in Theatervorstellungen oder Fantasy–Filmen gezeigt, wobei die Darsteller fehlende akrobatische Fähigkeiten meist mithilfe von Seilzügen und Verdrahtungen zu vertuschen versuchten. Der Dokumentarfilm „Die Bruce Lee-Story – Be water!“, den ARTE im Oktober zeigt, zeichnet nicht nur Lees Erfolgsgeschichte nach, er veranschaulicht auch, wie Lees Werk Europäern und Amerikanern einen neuen, positiveren Blick auf die asiatische Kultur eröffnete.
FILMIKONE TROTZ FRÜHEM TOD
Zwar starb Bruce Lee 1973 mit nur 32 Jahren an den Folgen eines Hirnödems und eines epileptischen Anfalls, der Kung-Fu-Boom aber überdauerte ihn. Das von ihm geprägte Heldenmotiv im Kampfsport wird unter anderem in „Rocky“ (1976), „Karate Kid“ (1984) und der Serie „Cobra Kai“ (ab 2018) aufgegriffen. Auch in Animationsproduktionen erfreut sich die chinesische Kampfkunst großer Popularität, wie zum Beispiel in der japanischen Anime-Serie „Naruto“ (ab 2000) oder der Filmreihe „Kung Fu Panda“ (ab 2008). Auch Bruce Lee gibt es längst gezeichnet und animiert: Mit „House of Lee“ wird im nächsten Jahr eine neue Anime-Serie über die Martial-Arts-Ikone erscheinen, in der seine Kung-Fu-Philosophie im Vordergrund steht. „Wir sehen auf der Leinwand Menschen, bei denen Körper und Geist im Einklang sind. Diese flinken und treffsicheren Bewegungen basieren auf großer innerer Ruhe – eine Art Meditation in Bewegung“, erklärt Irmgard Enzinger die Faszination daran. „In unserer modernen Gesellschaft ist der Geist gerne irgendwo, aber selten bei der Sache selbst.“ Um dem nachzueifern, müsse man nicht sofort zum Kampfsportkurs – ruhiges, meditatives Yoga würden reichen, um fokussierter zu werden.