»Kunst als Schutzraum«

Immer mehr Kreative sind durch Krisen gezwungen, ins Exil zu gehen. Was bedeutet das für sie und ihre Kunst? Ein Gespräch mit der Schriftstellerin und Aktivistin Annika Reich über neue Perspektiven.

Balletttänzerin Anastasia Ilnytska
Seit ihrer Flucht tanzt die Ukrainerin Anastasiia Ilnytska im Hamburger Kammer­ballett. Foto: Jonny Müller-Goldenstedt/Gebrüder Beetz Filmproduktion/ZDF

Welche Möglichkeiten haben Kulturschaffende im Exil nach dem Trauma der Flucht? Die Autorin Annika Reich setzt sich mit ihrer gemeinnützigen Organisation „Wir machen das“ in Berlin mit verschiedenen Projekten dafür ein, dass Menschen mit Migrationsgeschichte die Gesellschaft aktiv mitgestalten können.

Zur Person
Annika Reich, Autorin und Künstlerische Leiterin
2015 hat die Autorin die Organisation „Wir machen das“ mit 100 Frauen aus Kunst und Kultur, öffentlichem Leben, Journalismus, Wissenschaft und Politik gegründet. 2017 entstand die Plattform „Weiter Schreiben“.

Die Kunst, frei zu sein – Kreative im Exil

Kulturdoku

Mittwoch, 14.2.
— 21.50 Uhr
bis 14.3. in der Mediathek

ARTE Magazin Frau Reich, worum geht es Ihnen in der Kooperation mit geflüchteten Kunstschaffenden?  

Annika ReichAls wir 2015 den Verein gegründet haben, wollten wir uns nicht auf Nothilfe nach der Flucht fokussieren, sondern auf das Erschaffen eines gemeinsamen Handlungsraumes mit geflüchteten Menschen. Der Verein ging aus einem feministischen Netzwerk hervor, das ich zehn Jahre zuvor mit der Künstlerin Katharina Grosse gegründet hatte. In diesem Rahmen ist das Projekt „Weiter Schreiben“ entstanden, bei dem wir mit geflohenen Autoren und Autorinnen zusammenarbeiten und uns der Frage stellen: Was braucht es, um dem bisherigen Beruf weiter nachzugehen, wenn alles wegbricht durch so eine Flucht?

ARTE Magazin Wie unterstützen Sie dabei konkret?

Annika Reich Geflüchtete Autoren und Autorinnen sagten oft: „Wir wollen nur weiterschreiben.“ Dafür muss man aber publizieren können, übersetzt werden – und mit dem Literaturbetrieb vernetzt sein. Im Erstaufnahmelager weiß erst mal niemand, dass man ein berühmter jemenitischer Lyriker ist. Unser Verständnis von Zugehörigkeit ist an Hannah Arendts Definition angelehnt: Dazugehört, wer da ist. Alles andere kann auf Dauer nicht zu einem gemeinsamen Handeln führen, das Früchte trägt. Wir haben ein Tandemprinzip eingeführt mit geflüchteten und einheimischen Schreibenden: Die deutsch-georgische Autorin Nino Haratischwili arbeitet etwa mit der syrischen Autorin ­Lina ­Atfah zusammen oder die afghanische Lyrikerin ­Mariam ­Meetra mit der deutschen Schriftstellerin Antje Rávik ­Strubel.

 

Autorin Lina Atfah
Die syrische Autorin Lina Atfah hält Lesungen. Foto: Kahtrin Tschirner

ARTE Magazin Welche Chancen sehen Sie darin?

Annika Reich Der Austausch ist für beide Seiten bereichernd: Er bietet für die Exil-Schreibenden einen Anschluss an ihr Werk vor der Flucht und für den hiesigen Literaturbetrieb eine Perspektiverweiterung. Wir erzählen Geschichten, in die man sich anders einfühlen kann als in Nachrichtenbeiträge, die uns immer weniger erschüttern. Wir veröffentlichen Briefwechsel mit Autorinnen in Krisengebieten. Da kommt man ihrem Alltag nah – und macht ihn greifbarer. 

ARTE Magazin Also würden Sie sagen, die Zuwanderung bietet neue künstlerische Möglichkeiten?

Annika Reich Erst mal ist Zuwanderung nach einer Flucht oft mit Trauma verbunden. Das direkt mit neuen Perspektiven zu assoziieren, wird dem Prozess nicht gerecht. Alle Geflüchteten, mit denen wir zu tun haben, waren im Widerstand gegen eine Diktatur. Viele waren im Gefängnis und in Lebensgefahr. Auch das Ankommen in Deutschland kann traumatisierend sein. Gleichzeitig üben viele ihre Kunst weiter aus, wobei neue Freiräume, aber auch Labeling-Probleme entstehen: Viele Geflüchtete werden festgeschrieben auf ihr Exil – quasi als Genre, das sie zu bedienen haben. Dabei möchten sie vielleicht viel eher eine Liebesgeschichte schreiben. 

 

Karikaturist Mohamed Anwar in Berlin
Der ägyptisch-sudanesische Karikaturist Mohamed Anwar zeichnet im Berliner Exil. Foto: Ahmed K./Basil Gaddal/Gebrüder Beetz Filmproduktion/ZDF

ARTE Magazin Gibt es Gemeinsamkeiten, wie Kunstschaffende mit ihrem Trauma der Flucht umgehen? 

Annika ReichIch nehme zwei Tendenzen wahr: Für die einen stellt das künstlerische Schaffen einen Schutzraum dar – sie schreiben also gerade nicht darüber, was ihnen widerfahren ist. Die anderen verarbeiten das Grauen in ihrem Werk. Das Ausmaß kann oft gar nicht in Worte gefasst werden – selbst über die schlimmsten Schilderungen von Folter und Gewalt sagen die Betroffenen: „Ich konnte weder meiner Leserschaft noch mir selbst die ganze Wahrheit zumuten.“ ­Yirgalem ­Fisseha ­Mebrahtu war etwa sieben Jahre in einem Foltergefängnis. Sie ist die einzige eritreische Autorin, die in Deutschland öffentlich redet, weil der eritreische Geheimdienst auch hier aktiv ist. Die Gefahr hört also nicht gänzlich auf, wenn man im europäischen Exil ist.

ARTE Magazin Worin sehen Sie noch Herausforderungen in der Zusammenarbeit? 

Annika Reich Es gibt beschämend wenig Expertise in Deutschland, was internationale Literaturen anbelangt – andersherum kennen viele ukrainische, syrische, iranische, afghanische Menschen unseren Kanon ziemlich gut. Es gibt aber auch große Unterschiede auf der Arbeitsebene: In Syrien existiert etwa kein Lektorat. So habe ich anfangs wütende Anrufe bekommen, hier würde Zensur herrschen. Es muss also viel Vertrauen aufgebaut werden. Wenn in Kulturinstitutionen und Medienhäusern Menschen mit Fluchtgeschichte sitzen würden, gäbe es viele Probleme nicht – die Realität sieht aber anders aus.