Wie die Vögel im Käfig

Die spanische Serie „La mesías“ zeigt die obskuren Auswüchse von religiösem Fanatismus. Ein Thema, das noch immer für Diskussionen sorgt.

Drei Frauen vor schwarzem Hintergrund.
„La mesías“ zeigt Auswüchse von religiösem Fanatismus in Spanien. Die Kinder von Mutter Montserrat wachsen abgeschottet von der Gesellschaft und dem Rest der Welt auf. Foto: Carla Oset/ZDF

Ein Haus, im katalanischen Hochland. Mutter, Vater, acht Kinder. Im Garten picken die Hühner Körner vom kargen Boden. So weit, so idyllisch – doch schnell wird klar, dass hier etwas nicht stimmt: Niemand außer dem Vater verlässt morgens das Haus. Die Mutter, die unverkennbar mit psychischen Problemen kämpft, verbarrikadiert sich im Schlafzimmer und überlässt den beiden ältesten Geschwistern die Versorgung der jüngeren. Keines der Kinder besitzt eine Schultasche, und alle kennen nur ein einziges Buch: die Bibel.

So abnorm die Familie Puig Baró von außen wirkt, so gewöhnlich erscheint sie den Kindern, die mit ihren identischen Langhaarmähnen kaum voneinander zu unterscheiden sind. Wie sollte es anders sein? Sie kennen nur dieses eine Leben. Ihre gesamte Kindheit haben sie in dem Haus verbracht, abgeschottet von der Gesellschaft und dem Rest der Welt. „Draußen regiert der Teufel“, schärft ihnen ihre Mutter ­Montserrat (­Lola ­Dueñas) ein. Sie aber kenne den Heilsweg – denn Gott habe sie auserwählt, um die Menschheit zu retten.

Glaube oder Gehirnwäsche?

„Wir wollten, dass die Zuschauer sich fragen, wie diese Form der Gehirnwäsche möglich ist“, sagt der Regisseur ­Javier ­Calvo über die Serie „La mesías“, die ARTE ab November online zeigt. Es ist das vierte Projekt, das ­Calvo gemeinsam mit seinem Regie- und Lebenspartner ­Javier ­Ambrossi umgesetzt hat. In ihrem Heimatland sorgen die Regisseure für eine Kontroverse: Die einen feiern sie als Hoffnungsträger des spanischen Arthouse-Kinos. In konservativen Kreisen hingegen werden sie wegen der negativen Darstellung von Katholizismus und familiären Beziehungen kritisiert.

La mesías

Serie

ab 15.11. in der
Mediathek

„Die Serie dreht sich nicht um eine be­­stim­­mte Religion oder das Christentum“, stellte ­Calvo im Interview mit der spanischen Filmakademie klar. Stattdessen beleuchte sie die psychologische Dimension des Glaubens. Dieser könne ganz unterschiedliche – und in einzelnen Fällen eben auch krankhafte – Formen annehmen. „Es geht darum, wie der Glaube im Allgemeinen die Leere füllt“, so der Regisseur. Vor allem aber gehe es um Isolation und Gewalt in Familien und um transgenerationale Traumata.

Die Mutter Montserrat (auf Deutsch: „gesägter Berg“), die als Kind selbst missbraucht wurde, flüchtet sich als Erwachsene in eine Fantasiewelt, in der sie die Kontrolle über den Lauf der Dinge hat. Besessen von der Idee, ein Messias zu sein, zwingt sie ihre Kinder schließlich dazu, christliche Popsongs für einen Youtube-Kanal aufzunehmen. Ihr devoter Ehemann Pep (­Albert Pla) filmt die Kinder, die mit ihren bunten Kleidern und den flatterigen Bewegungen an dressierte Singvögel erinnern.

Fünf Mädchen in knallbunten Kleidern.
Besessen von der Idee, ein Messias zu sein, zwingt Montserrat ihre Kinder dazu, christliche Popsongs für einen Youtube-Kanal aufzunehmen. Foto: Suma Content

Für das Drehbuch hatte das Regie-Duo gleich mehrere reale Vorbilder: „Wir haben mit einem Soziologen zusammengearbeitet, der zu Geschwistern forscht, die eingesperrt aufwuchsen und bei denen Kunst oder Religion zentrale Bestandteile der Erziehung waren“, sagt Calvo. Dazu gehören zwei berühmte Fälle aus den USA: Die Wolfpack-Brüder, die ihre gesamte Kindheit in einer kleinen Wohnung in New York City verbrachten, und die Schwestern der Band „The Shaggs“, die in den 1960er Jahren von ihrem Vater in einen Keller voller Instrumente gesperrt wurden. Seine Begründung: Gott habe ihm gesagt, sie müssten eine Rockgruppe gründen.

Trotz Parallelen zu realen Fällen sei die Serie fiktiv, betonen die Regisseure. Dies gab ihnen die Freiheit, der bedrückenden Handlung eine unerwartete Wendung zu verleihen: Nach Jahren des Eingesperrtseins gelingt einem der Kinder der Ausbruch aus dem ideologischen Käfig: Isaías (Biel ­Rossell i ­Pelfort) erhascht eines Mittags einen heimlichen Blick auf den Fernseher, wo gerade ein Musicalfilm läuft. Ergriffen von den singenden und tanzenden Darstellern, ist der Durst nach Freiheit in ihm geweckt. Kurz nach seiner Flucht aus dem Haus gelingt auch seiner Schwester der Ausbruch.

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet ­Kunst als Tor zur Welt dient. Auch für Ambrossi war der Film ein Katalysator, um sich zu emanzipieren. Als Jugendlicher habe er mit seiner Identität gekämpft, weil ihm von seinem katholischen Umfeld eingetrichtert wurde, Homosexualität sei eine Sünde, sagt er. Das änderte sich, als er ­Pedro ­Almodóvars „Das Gesetz der Begierde“ (1987) sah – einen der ersten spanischen Filme, die sich mit queerer Liebe auseinandersetzten. „Das war ein Schlüsselmoment: Ich erkannte, dass es da draußen mehr gibt.“ In dieser Hinsicht sei „La mesías“ auch von seiner eigenen Ge­schichte inspiriert: „Die Serie handelt letztlich davon, die Tür zu öffnen, um in die Welt hinauszugehen.“