Düsseldorf, „der Westen von Westdeutschland“, wie Mithu Sanyal ihre Heimatstadt verortet. Hier sitzt sie zum Zoom-Gespräch vor ihrem Wohnhaus, ihr Gesicht eingetaucht in die Mittagssonne. Dank ihrer Bücher sowie Radio- und Podcastbeiträge zählt Sanyal, die zu Jahresbeginn ihren ersten Roman „Identitti“ veröffentlicht hat, zu den bedeutenden deutschen Kulturdenkerinnen ihrer Generation. Ihre Themenschwerpunkte sind Feminismus, Rassismus, Identitätspolitik und Postkolonialismus. Auf der Frankfurter Buchmesse gehört Mithu Sanyal am 23. Oktober zu den Protagonistinnen des von ARTE organisierten Labors für gemeinsame Zukunftsfragen, allen voran: „Wie wollen wir leben?“.
arte magazin Frau Sanyal, in Kürze haben wir eine neue Regierung. Finden Sie, die Parteien liefern gute Antworten auf die Frage, wie unser Leben in Zukunft aussehen soll?
Mithu Sanyal Mir fehlen ein wenig die utopischen Aspekte in den Programmen. Das liegt an der Art, wie in unseren Demokratien Politik gemacht wird. Da arbeitet man sich sehr am Faktischen ab. Es geht darum, Probleme zu identifizieren, um sie zu beschränken. Parteiprogramme sind insofern eine eigene Literaturform. Alle wissen, was sie davon erwarten können. Und wenn da stehen würde: „Wir möchten anders leben!“, denkt man: „Ja watt denn jetzt konkret, was willst du verbieten?“
arte magazin Verbote regeln unser Zusammenleben, sind aber ein politisch heikles Thema, das die Menschen spaltet – nicht erst seit der Pandemie. Warum ist es so schwierig geworden, über Verbote zu diskutieren?
Mithu Sanyal Unser politischer Diskurs hat sich verändert. Was mich momentan daran unglücklich macht: dass viele Menschen glauben, man könnte nicht gemeinsam Politik machen, nur weil man unterschiedliche Dinge richtig findet.
arte magazin Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Mithu Sanyal Wenn mir jemand vor zehn Jahren gesagt hätte, dass Menschen, die sich impfen lassen, und Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, in unserer Gesellschaft irgendwann massive Gegner sein könnten – ich hätte es nicht geglaubt. Das waren mal Eso-Diskussionen, die sonst niemand interessiert haben. Vergleichbare Spaltungen sehen wir bei vielen anderen Themen, etwa der Migrationsfrage. Mein großer Wunsch ist daher, dass wir als Gesellschaft wieder lernen: Wir müssen die Gegenseite nicht immer überzeugen. Wir können trotzdem zusammenleben und punktuell zusammenarbeiten, auch wenn wir nicht in allen Fragen einer Meinung sind.
arte magazin Ihr Buch „Identitti“ beschreibt die Identitätssuche zweier Protagonistinnen. Kritiker sind sich einig: Sie treffen genau den richtigen Ton für das komplexe Thema, weil Sie nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum Lachen anregen. Wie ist Ihnen das gelungen?
Mithu Sanyal Ich bin sehr beeinflusst von britischer Comedy. Dort habe ich zum ersten Mal, außerhalb von akademischen Kontexten, Auseinandersetzungen mit Rassismus gesehen. Das fing an mit Comedy-Shows wie „Goodness Gracious Me“. Man kann mit Humor Leute viel einfacher mit ins Boot holen. Nach dem Motto: Lasst uns zusammen über dieses merkwürdige Phänomen Rassismus lachen, das macht ja überhaupt keinen Sinn. Und nicht: Lasst uns über die Opfer von Diskriminierung lachen. Lachen zu können, hat etwas sehr Heilsames. Es ist eine Form des Ermächtigens.
arte magazin Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Wie möchten Sie persönlich in 20 oder 30 Jahren leben? Haben Sie da eine Vorstellung?
Mithu Sanyal In erster Linie möchte ich dann überhaupt noch leben. Stichwort Klimakrise. Ich teile allerdings nicht die Haltung, dass die Welt demnächst untergehen wird und alles verloren ist. Auch, weil ich so nicht politisch arbeiten könnte. Ich muss fest daran glauben, dass es eine Zukunft gibt: und zwar auf diesem Planeten und nicht auf dem Mars oder wo auch immer. Damit das gelingt, müssen wir unser Verhältnis zur Natur verändern. Wir müssen aufhören, sie retten oder ausbeuten zu wollen. Das ist dasselbe nur mit anderen Vorzeichen. Stattdessen müssen wir lernen, in einem reziproken, also wechselseitigen Verhältnis miteinander zu leben. Oh, und natürlich will ich bis dahin noch viele Romane schreiben.