Auf der Bühne ist Lars Eidinger – das sagt er selbst – ein „Experte fürs Maßlose“, ein Radikaler, der sich bis zur Erschöpfung verausgabt. Im Kino verkörpert der 1976 in Berlin geborene Schauspieler hingegen einen ganz anderen Rollentypus: „die Personifizierung moderner Männlichkeit“ (FAS). In so unterschiedlichen Filmen wie „Alle anderen“ (2009) von Maren Ade, „Sterben“ (2024) von Matthias Glasner oder „Familienfest“ (2015) von Lars Kraume, den ARTE im Februar zeigt, spielt er nie fest umrissene Charaktere, sondern ambivalente, fragile, innerlich aufgewühlte Figuren. Für seine Kunst wird er von Jurys preisgekrönt, vom Publikum geliebt – und von der Kritik entweder in den Himmel gelobt oder rüde heruntergemacht. Doch was sagt Lars Eidinger zu dem Phänomen „Lars Eidinger“? Beim Interview in einem Café in Essen, wo er mit einem Brecht-Abend gastiert, trifft man auf einen zurückhaltenden Künstler, dem alles Divenhafte fern zu sein scheint.
ARTE Magazin Herr Eidinger, Sie sind gerade mit einem Soloprogramm auf Tour. Vor einiger Zeit kam der Koffer mit den Kostümen nicht an. Wie war das für Sie?
Lars Eidinger Schwierig, denn ich trete nicht gern in meinen privaten Sachen auf. Ich bin generell eigen, fast zwanghaft, was das Kostüm betrifft. Wenn auf Gastspielen zum Beispiel ein anderes Waschmittel benutzt wird, ist es für mich schwer, damit umzugehen. Ich habe 25 Jahre lang eng mit einer Garderobiere zusammengearbeitet, die leider letztes Jahr verstorben ist. Sie stand oft bis spätnachts allein in der Waschküche und hat die Kostüme von „Hamlet“ gewaschen. Wer die Inszenierung kennt, weiß, dass sie bis in die Taschen mit Erde verdreckt sind. Am nächsten Tag hängt alles wieder blütenweiß da, wie ein Wunder. Marita Kaiser, so hieß die Garderobiere, hat sich für den Beruf aufgeopfert, sie hatte eine große Sensibilität im Umgang mit Kostümen und Schauspieler*innen. Sie hat immer gescherzt, dass sie gerne eine Waschmittelwerbung machen würde. Der Slogan sollte lauten: „Rein oder nicht rein …“.
ARTE Magazin Sie spielen den Hamlet in der Inszenierung von Thomas Ostermeier seit 2008. Hat sich der berühmte Monolog „Sein oder nicht sein“ für Sie mit der Zeit verändert?
Lars Eidinger So banal es klingt, die Herausforderung besteht darin, den Text tatsächlich unmittelbar zu denken. Als Berufsanfänger habe ich mal den Rat bekommen, man müsse den Text „notwendig“ machen. Damals fand ich das eine altväterliche Floskel, aber es stimmt: Man muss es schaffen, sich den Text jedes Mal aufs Neue zu vergegenwärtigen. Sonst sagt man ihn einfach nur auf.
ARTE Magazin Sie sind dafür bekannt, mit Ihren Rollen an Grenzen zu gehen.
Lars Eidinger Ich versuche, über den Inhalt zur Emotionalität zu gelangen – nicht weil ich beweisen will, dass ich vor Publikum weinen kann, sondern weil ich etwas über mich selbst begreifen will. Ähnlich, wie man sich in einer Psychoanalyse an einen Punkt bringt, an dem man merkt, jetzt wird es bedeutend für mich. Das ist der Anspruch, der über allem steht: über der Kunst, aber auch über dem Leben.
ARTE Magazin Sie kommen über das Spielen sich selbst näher?
Lars Eidinger Der Regisseur Matthias Glasner hat das gut beschrieben: Er wollte seinen Film „Sterben“ so persönlich wie möglich machen, damit er so universell wie möglich wird. Das ist auch meine Erkenntnis: Wenn ich es schaffe, persönlich anwesend zu sein, gebe ich den Zuschauenden die Möglichkeit, eine Ahnung davon zu bekommen, wer sie sind. Da geht es nicht um mich oder um eine Figur wie Hamlet, sondern um die Zuschauenden selbst. Das ist das Besondere an der Auseinandersetzung mit Kunst. Man möchte über das Gegenüber sich selbst begegnen.
ARTE Magazin Jede Figur, die Sie spielen, hat also etwas von Lars Eidinger?
Lars Eidinger Als ich am Deutschen Theater angefangen habe, haben die älteren Kollegen zu mir gesagt: „Dein privater Scheiß interessiert hier nicht.“ Mittlerweile weiß ich: Das Gegenteil ist der Fall. Wenn etwas in der Kunst interessant ist, dann das Persönliche. Man kann das „privaten Scheiß“ nennen, man kann aber auch sagen, wenn wir unser Innerstes nach außen kehren und zur Disposition stellen, geben wir dem Gegenüber die Möglichkeit, sich darin wiederzufinden.
ARTE Magazin In der Dokumentation „Lars Eidinger – Sein oder nicht sein“, die ARTE im Februar zeigt, gibt es eine Szene, in der Sie sich auf einer Probe zu „Jedermann“ in Salzburg mit dem Regisseur streiten, weil er Ihnen nicht zuschaut. Warum reagierten Sie so verärgert?
Lars Eidinger Für mich ist es die wichtigste Szene im Film, denn man kann an ihr alles ablesen, was Schauspielerei ausmacht. Man sieht zum Beispiel in meinem Gesicht den Unterschied, auf der Ebene der Fiktion zu agieren oder in der Realität. Das hat der Filmemacher Reiner Holzemer eingefangen. Es gibt Leute, die behaupten, in dem Moment hätte ich die Kamera vergessen. Im Gegenteil, ohne sie hätte der Moment so gar nicht stattgefunden. Denn normalerweise sind Proben ja ein geschützter Raum, in dem man sich ausprobieren kann. Ich wurde aber gefilmt, deshalb fühlte ich mich aufgerufen, etwas Substanzielles zu schaffen.
ARTE Magazin Worum ging es konkret?
Lars Eidinger Die Hauptaufgabe der Figur des Jedermann ist es, nachvollziehbar zu machen, was es für einen Menschen bedeutet, mit dem Tod konfrontiert zu werden. Eigentlich ist das fast unmöglich, weil es die Vorstellungskraft übersteigt, aber in dieser Probe ist es mir ansatzweise gelungen. Ich konnte mir tatsächlich vorstellen, dass ich sterben muss, und merkte, wie mein ganzer Körper darauf reagiert. Und in diesem theatral existenziellen Moment steht der Regisseur auf und flüstert der Assistentin etwas ins Ohr. In der Dokumentation bekommt man den Eindruck, ich würde sehr schnell sehr laut werden. In Wirklichkeit zog sich die daraus folgende Diskussion über eine Stunde lang hin.
ARTE Magazin Von der Kritik wird Ihnen auch wegen solcher Szenen öfter mal Eitelkeit unterstellt.
Lars Eidinger Das liegt aber auch daran, dass der Begriff „eitel“ oft falsch benutzt wird. Er bedeutet „bedeutungslos, belanglos, inhaltslos“. In dem Fall passiert ja genau das Gegenteil. Etwas, das mir sehr viel bedeutet, wird vom Gegenüber geringgeschätzt. Auch die Zuschreibung „Narzisst“ wird oft falsch und leichtfertig angewandt: Ein Narzisst sei jemand, der um sich selbst kreist und eitel oder selbstverliebt ist. Die Tragik besteht aber auch hier im Gegenteil darin, dass jemand sich nicht selbst erkennt und somit auch nicht selbst lieben kann. Er stirbt an gebrochenem Herzen. Aus diesem Grund ist das „Erkennen“ auch in der Bibel ein wichtiges Motiv. Dort ist es ein Synonym für Liebe: „Sie erkannten einander und sie wurden ein Fleisch.“
ARTE Magazin Fühlen Sie sich missverstanden?
Lars Eidinger Mir gefällt der Begriff „Unterhaltung“ im Deutschen, weil es um Kommunikation geht und um gegenseitiges Verstehen. Sagen wir es so: Wenn der höchste Anspruch ist, erkannt zu werden und sich zu erkennen zu geben, dann ist das Missverstehen davon natürlich eine Kränkung. Und wenn Erkennen für Liebe steht, steht Verkennen für Ablehnung.
ARTE Magazin Sie sind als Schauspieler im Kino und Theater erfolgreich, haben als Fotograf Ausstellungen und machen Musik. Warum sind Sie in so vielen Disziplinen aktiv?
Lars Eidinger Ich finde es nicht abwegig, dass jemand, der kreativ ist, sich in unterschiedlichen künstlerischen Bereichen ausdrückt. Dafür gibt es ja viele Beispiele, Leonardo da Vinci etwa oder Goethe. Umgekehrt ist doch eine Inselbegabung etwas viel Selteneres. Wenn ich dann höre „Was macht der eigentlich nicht?“, denke ich immer: „Komisch, dass die Leute sich nicht einfach freuen.“
ARTE Magazin Ihren sehr erfolgreichen Instagram-Kanal haben Sie 2022 plötzlich geschlossen. Warum?
Lars Eidinger Es hieß oft, ich hätte die negativen Kommentare nicht ausgehalten oder es sei mir alles zu viel geworden. Ich habe meinen Account gelöscht, weil ich die sogenannten sozialen Medien für toxisch halte. Sie vergiften die Gesellschaft. Das ist nicht mein singuläres Problem, sondern ein Gesamtgesellschaftliches. Wenn ich Sozialkritik äußere, versuche ich mich immer auch als Teil des Problems zu begreifen, aber diese gedankliche Transferleistung scheinen die wenigsten nachvollziehen zu können. Wenn ich zum Beispiel Peer Gynt als jemanden spiele, der eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat, möchte ich thematisieren, das wir im Zeitalter des Narzissmus leben. Und nicht, dass ich, Lars Eidinger, ein Narzisst bin.
ARTE Magazin Muss man als Künstler leiden oder ist das ein Klischee?
Lars Eidinger Es geht nicht um Selbstmitleid oder Wehleidigkeit, aber mit dem Begriff „Weltschmerz“ kann ich etwas anfangen. Das Bewusstsein, zu existieren, kann eine Form von Leid oder Schmerz auslösen. Die Sehnsucht, wieder dahin zurückkehren zu wollen, von wo wir gekommen sind. Aus der Geborgenheit der Mutter in die Welt geboren zu werden löst, glaube ich, ein Trauma aus, an dem wir uns ein Leben lang abarbeiten. Leben heißt Sterben, jeder Moment der Vergangenheit ist ein toter Moment.
ARTE Magazin Sie arbeiten auch in Hollywood. Zuletzt haben Sie mit George Clooney in London gedreht. Regie führte Noah Baumbach. Wie war Ihre Erfahrung?
Lars Eidinger Das Gemeine an meinem Beruf ist, dass man nicht wirklich Akquise für sich selbst machen kann, sondern darauf angewiesen ist, gefragt zu werden. Insofern war ich sehr glücklich, als Noah Baumbach mich nach „White Noise“ wieder angerufen hat. Er ist für mich einer der letzten großen Filmemacher und dreht noch auf Film. Während des Drehs hat er jeden Sonntag um zehn Uhr morgens die ganze Crew in ein Kino eingeladen, um gemeinsam einen Film zu schauen, der ihn beeinflusst hat. Er sagte dann vorher so etwas wie: „Schaut euch mal das Blocking an.“ Damit ist gemeint, wie sich die Figuren zueinander bewegen. Das war wie Kirche. Am Montag tritt man dann ganz anders an. Man hat den Glauben ans Kino wiedergefunden und ist bereit, sich dafür aufzuopfern.
ARTE Magazin Ist die Arbeit anders als in Europa?
Lars Eidinger Es ist schon sehr … US-amerikanisch. Das war eines der Projekte, in der alle Schauspielerinnen und Schauspieler mit kleineren Rollen nur ihre eigenen Szenen bekommen. Das Drehbuch habe ich bis heute nie gelesen. Aus Neugierde habe ich nachgeschaut, wann die Abholzeit von George Clooney ist. Auch er wurde jeden Tag um sechs Uhr morgens abgeholt. Das ist schon sehr mühselig. Wenn man aber denkt, die kochen auch nur mit Wasser, dann täuscht man sich.
ARTE Magazin Ach. Womit kochen Sie denn?
Lars Eidinger Mit Coca-Cola.
Das Bewusstsein, zu existieren, kann Schmerz auslösen