Laufen bis zum Umfallen

Doping- und Misshandlungsvorwürfe, aber kaum Beweise. Trotzdem ist das Nike Oregon Project gescheitert. Das Eliteteam der Leichtathletik hat das systematische Wettrüsten überstrapaziert.

Illustration: Nazario Graziano

Längst geht es um mehr als die Schuld von Einzelnen. Der Aufstieg und Niedergang des Nike Oregon Project (NOP) erzählen eine universellere Geschichte. Es geht um ein System des Wettrüstens, das die Grenzen des Legalen in der Leichtathletik ausgedehnt und teils wohl auch umgangen hat. Seit seiner Gründung im Jahr 2001 hatte das Eliteteam des weltweit führenden Sportartikelherstellers zahlreiche Spitzensportler hervorgebracht. Darunter den britischen Olympiasieger und Weltmeister Mo ­Farah, den US-Olympiasieger ­Matthew ­Centrowitz und die deutsche Mittel- und Langstreckenläuferin ­Konstanze ­Klosterhalfen. Nach Doping-Vorwürfen beendete Nike das Oregon Project 2019 schlagartig.

Wie die von ARTE im Juli ausgestrahlte Dokumentation des Filmproduzenten Paul Kemp zeigt, sind die im Raum stehenden Vorwürfe bis heute weder bewiesen noch widerlegt. Doch Aussagen früherer NOP-Sportler und kompromittierender Schriftverkehr, unter anderem mit dem mehrfach überführten Dopingsünder ­Lance ­Armstrong, lassen erahnen, mit welchen Mitteln Nikes Prestigeprojekt versucht hat, Siegeschancen unter allen Umständen zu maximieren. Ohne Rücksicht auf etwaige Opfer und ohne dass Nikes Marketingstrategen, die den Sportextremismus konsequent befeuert haben, heute Verantwortung übernehmen würden. Doch der Reihe nach.
Im Zentrum des NOP-Skandals steht ­Alberto ­Salazar, langjähriger Cheftrainer der im US-Bundesstaat Oregon angesiedelten Kaderschmiede.

Der Exilkubaner galt in den 1980ern als schnellster Langstreckenläufer der Welt. Schon damals war er berüchtigt dafür, Grenzen zu überschreiten. Bestes Beispiel: Sein Endspurt beim Boston-Marathon 1982, als er mit hauchdünnem Vorsprung als Erster über die Ziellinie rannte und dann dehydriert kollabierte. „Ein Team von Ärzten, Krankenschwestern und Physiotherapeuten wickelte ­Salazar schnell in Plastikfolie und Decken ein und verabreichte ihm intravenös sechs Liter Kochsalzlösung“, berichtete die New York Times.

20 Jahre später dominierten vor allem Läufer aus afrikanischen Ländern die Welt der Langstrecken. ­Nike wollte das ändern – und gründete dafür das Oregon Project, das explizit Sportler aus den USA und anderen westlichen Ländern fördern sollte. Das übergeordnete Ziel: Welterfolge mit Topathleten, mit denen sich die kaufkräftige Kundschaft von Laufschuhen identifizieren konnte. Mit ­Alberto ­Salazar fand Nike einen Trainer, der nicht nur hyperkompetitiv, sondern der Firma seit seiner eigenen Laufkarriere verbunden war. Neben dem berühmten Markenzeichen Swoosh zierte Nikes Team fortan ein weiteres Logo: ein von einem Lorbeerkranz umrandeter Totenkopf. Manche sagen, ­Salazar habe die Ausbildung für ­Mittel- und Langstreckenläufer revolutioniert – etwa mit Unterwasser-Laufbändern, detailliertem Intervalltraining und Kryo­saunen, die Körper extremer Kälte aussetzen. Andere kritisieren seine Methoden als gesundheitsgefährdende Tortur ohne wissenschaftliche Grundlage. Fest steht: Unter ­Salazars Regiment entwickelte sich das NOP zum erfolgreichsten Trainingscamp der Leichtathletik.

Das System Nike: Siegen um jeden Preis

Gesellschaftsdoku

Dienstag, 20.7. — 21.45 Uhr
bis 18.8. in der Mediathek

Testosteron und Medikamente
Gerüchte um Doping innerhalb des NOP gab es bereits in den 2000ern. Konkrete Anschuldigungen erhob erstmals das investigative Netzwerk ProPublica im Jahr 2015: „Die Vorwürfe gegen ­Salazar reichen von Experimenten mit bekannten Dopingmitteln wie Testosteron bis hin zur Verabreichung von verschreibungspflichtigen Medikamenten.“ Auch wenn keiner der NOP-Athleten jemals positiv getestet wurde, sperrte die US-Anti-Doping-Agentur ­Alberto ­Salazar 2019 wegen diverser kleinerer Verstöße für vier Jahre. ­Nike verkündete daraufhin die Auflösung des Oregon Projects.

Schwer wiegen auch die Anschuldigungen der ehemaligen NGO-Läuferin ­Mary Cain: „Ich schloss mich Nike an, um die beste weibliche Athletin aller Zeiten zu werden. Stattdessen wurde ich geistig und körperlich von dem System misshandelt, das ­Alberto entworfen und Nike gebilligt hat“, sagt sie in einem Video-Beitrag der New York ­Times. Ungeachtet aller Vorwürfe steht der Sportartikelhersteller bis heute hinter dem Ex-Trainer und investierte mehrere Millionen Dollar in dessen juristische Rechtsstreits. Warum? „Es ist eine Verteidigung der gesamten Markenphilosophie“, schreibt der Sportjournalist Martin Fritz Huber im Magazin Outdoor. „Das Unternehmen kann Salazar nicht verurteilen, ohne sich selbst zu verurteilen.“

Ich wurde geistig und körperlich von dem System misshandelt, das [...] Nike gebilligt hat

Mary Cain, ehemalige Läuferin des Nike Oregon Project