Kopfsprung in andere Welten

Sie kann fast alles und erspart sich wenig. Léa ­Seydoux gelingt wie kaum einer Schauspielerin der Balanceakt zwischen Hollywood und Autorenkino. Zur Not mit vollem Körpereinsatz.

Foto: Nick Thompson/Trunk Archive

Schön anzusehen ist das nicht. Da ist Léa ­Seydoux, Superstar des Autorenkinos, Bond-Girl, manchmal etwas antiquiert als Königin von Cannes bezeichnet, und fuhrwerkt einem Mann in den Innereien herum. Mit einem Greifarm extrahiert sie ein widerspenstiges Organ aus der Bauchhöhle, es sollte dort nicht sein, eine Wucherung, die eliminiert gehört. Die Operation ist ein Spektakel vor großem Publikum, voyeuristisch aufgeladen. Aber auch, so die intensiv kolportierte Botschaft des Films „Crimes of the Future“ (2022), aus dem diese Szene stammt: Kunst. Und die Kunst fordert bekanntlich so einiges. Weswegen Seydoux später noch an weiteren Körpern herumschnippeln und sich selbst in die Stirn ritzen lassen wird, um bloß die harmloseren Vorfälle zu nennen. Man mag also kaum behaupten, dass eine von Frankreichs erfolgreichsten Schauspielerinnen Berührungsängste hätte, was in Zeiten neurotischer Imagepflege ja an sich schon bemerkenswert ist. Natürlich kann ­Seydoux auch die schönen Dinge, die historischen Panoramen mit den großen Kostümen, die glamourösen Auftritte auf der Croisette. Doch gerade ihre Intensität sticht hervor: Immer spielt sie, als ginge es um ihr Leben, und womöglich stimmt das auch ein bisschen. Jedenfalls hat sie kein Problem damit, in ihrer Arbeit das Unansehnliche oder sehr Intime offenzulegen. Er habe nie jemanden getroffen, der sich furchtloser in eine Rolle stürze, urteilte ihr Schauspielkollege ­Viggo ­Mortensen. Sie selbst findet, Filmemachen habe eben nichts mit Bequemlichkeit zu tun: „Man muss sein Fleisch und Blut auf den Tisch legen.“ Manchmal sogar ganz buchstäblich.

 

Foto: Shanna Besson/ARTE F

 

GARANTIERT UNBERECHENBAR

Mit dieser Kompromisslosigkeit fährt Seydoux ziemlich gut; sie hat ihr Zugang zu allen Sphären des Filmgeschäfts verschafft. Tatsächlich ist es eine recht komplizierte Aufgabe, im Werk von Léa Seydoux einen roten Faden zu finden, weil sie fast alles gemacht hat. Die intellektuellen Independentfilme, die nicht ganz so cleveren, dafür aber starbesetzten Hollywood-Blockbuster. Ob sie mit Wes Anderson dreht oder Denis Villeneuve, mit Yorgos Lanthimos oder Xavier Dolan, ob sie die Freundin von 007 gibt oder eine tätowierte Jugendliche in der französischen Provinz: Selten ist einer Schauspielerin der Spagat zwischen ernstem Fach und Massenkino so nahtlos gelungen. Das dürfte auch daran liegen, dass Seydoux nicht nur sehr durchdringend, sondern auch so ambivalent wirkt. Alles an ihr ist uneindeutig: der blassblaue Blick, der müde und brutal zugleich gucken kann, die Unmittelbarkeit, mit der sie ihr Gesicht plötzlich aufweicht. Man traut ihr eine Zofe am Hof von ­Marie ­Antoinette ebenso zu wie die toughe, punkhaarige Kunststudentin in „Blau ist eine warme Farbe“ (2013). Seydoux bietet genug Unschärfe, um sich vom Publikum vereinnahmen zu lassen – und sich selbst in jedes soziale Umfeld zu verpflanzen.

Darum ist es bloß ein wenig ungewohnt, sie im Drama „Im Schatten von Roubaix“ (2019) demonstrativ abgehalftert anzutreffen. Der Film, den ARTE im Oktober zeigt, führt in den äußersten Nordosten Frankreichs, namentlich in die Stadt Roubaix. Die ist eine der ärmsten des Landes. Gewalt gehört hier offenbar zum Tagesgeschäft, zumindest wenn man sich, wie Regisseur Arnaud ­Desplechin es tut, an die Fersen der Polizei heftet. In seinem Film noir laufen die Verbrechen wie von der Kette: Mord, Brandstiftung, anders Abgründiges.

Desplechin erzählt aus der Sicht eines weltweisen Kommissars, und es spricht für das Talent von Léa ­Seydoux, dass sie es schafft, dem etwas didaktischen Ansatz einen rätselhaften Anstrich zu verpassen. Dass darunter auch eine gewisse Abgebrühtheit lauert, dürfte niemanden überraschen: Seydoux spielt ­Claude, die eine Hälfte eines abgerissenen Paars, das in Verdacht gerät, für den Tod einer alten Frau verantwortlich zu sein. Ausgestattet mit ostentativen Merkmalen der Sozialproblematik – Augenringe, hoher Bierkonsum –, verwickeln sie und ihre Partnerin ­Marie (Sara Forestier) sich in allerlei Widersprüche. Haben diese zwei die Nachbarin erwürgt, um ihr den Fernseher und das Waschmittel zu stehlen? Es geht um große Kaliber: Schuld, Sühne, niedere Instinkte.

 

Léa Seydoux als fiese Schwester in „Winterdieb“. Foto: Roger Arpajou/ARTE F

Im Schatten von Roubaix

Krimi

Montag, 17.10. — 20.15 Uhr

bis 23.10. in der Mediathek

KONTROVERSER FILM, GROSSER PREIS

Tatsächlich kann man sich wenige Orte vorstellen, die der Lebensrealität von Seydoux ferner liegen dürften. Sie entstammt gleich zwei einflussreichen französischen Familien, ist in Paris im feinen 16. Arrondissement aufgewachsen. Weil ihr Großvater als früherer Präsident des Konzerns Pathé einen gewichtigen Namen im Filmgeschäft besitzt, hat sie unermüdlich erklärt: Nein, niemand ihrer Verwandten habe je Interesse an ihrer Karriere gezeigt. Sowieso sei es mit der idyllischen Kindheit nicht weit her gewesen. „Wir waren eine Bohème-Familie, aber keine glückliche.“ 

Zur Schule ging sie, die nach eigenen Angaben fast unerträglich schüchtern war, selten; es haute einfach nicht hin. Film dagegen erwies sich als Selbstläufer, sogar als Notwendigkeit. Und zwar nicht als Mittel zur Wirklichkeitsflucht, sondern zur Wirklichkeitsfindung: Die Fiktion, hat Seydoux oft gesagt, verbinde sie mit der Realität. Das klingt zugespitzt, ihre Begeisterung für das Kino aber beruht auf Gegenseitigkeit. Gleich für ihre erste große Rolle als schwerlidrige Gymnasiastin in „Das schöne Mädchen“ (2008) wurde sie für Frankreichs Filmpreis César nominiert. Da war sie 23. Im Jahr darauf engagierte ­Quentin ­Tarantino sie als Bauernmädchen in der Weltkriegsfarce „Inglourious Basterds“ (2009), dann folgten ein paar Auftritte als Französin vom Dienst: schön, meistens charmant, bei Bedarf auch gefährlich. ­Woody ­Allens „Midnight in Paris“ (2011) war so ein Fall, auch „Mission Impossible – Phantom Protokoll“ (2011) – ein Ausflug in die seichteren Gebiete von Hollywood.

Doch es war „Blau ist eine warme Farbe“ (2013), jener hochdekorierte Liebesfilm von ­Abdellatif Kechiche, der sie berühmt machte. Er erzählt vom Entstehen und Zerbrechen einer Beziehung, doch weil die Protagonistinnen zwei Frauen waren und seine Hauptdarstellerinnen, ­Léa ­Seydoux und ­Adèle ­Exarchopoulos, so unbekannt und jung, ihre Darstellung so roh und verletzlich, besaß dieser Film besondere Sogkraft. Bei den Festspielen in Cannes wurden ­Seydoux und ­Exarchopoulos mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, eine Ehrung, die normalerweise nur Regisseuren zuteil wird. Wie sich herausstellte, bot der Film aber nicht nur Anlass für viel Kritikerlob, sondern auch für viel Kontroverse. Denn ­Kechiche hatte seine Schauspielerinnen in privaten Momenten gefilmt, ließ Sexszenen unendlich oft wiederholen. ­Seydoux schwor dann sehr öffentlich, kein zweites Mal mit ihm zu arbeiten.

 

Léa Seydoux als verliebte Kunststudentin in „Blau ist eine warme Farbe“. Foto: Alamode Film/picture alliance/dpa

Man muss sein Fleisch und Blut auf den Tisch legen

Léa Seydoux, Schauspielerin

Es wäre ohnehin nicht nötig gewesen, weil nun auch alle anderen ein Stück von ihrer Nouvelle-­Vague-haften Leichtigkeit, ihrer weltmüden Schwere wollten. Seitdem hat ­sie kaum noch aufgehört zu drehen, spielte in „Grand Budapest Hotel“ (2014), „The Lobster“ (2015), „The French Dispatch“ (2021) oder auf den Spuren von ­Jeanne ­Moreau in „Tagebuch einer Kammerzofe“ (2015). Das Bemerkenswerte an ihrer Rolle als ­Madeleine Swann, der Freundin von ­James Bond, betraf dann eher Grundsätzliches: Gleich zweimal, in „Spectre“ (2015) und „No Time To Die“ (2021), ging der Part an Seydoux. Ihre ­Madeleine Swann durfte die Beziehung zu Bond nicht nur überleben, sondern obendrein eine selbstbestimmte Frau und gleichberechtige Lebenspartnerin werden, was 007 zumindest halbwegs ins 21. Jahrhundert beförderte. 

Es passt, dass diese Aufgabe ausgerechnet ­Léa ­Seydoux zufiel. Denn das ist noch so ein Paradox: dass sie sehr modern wirkt und zugleich ein bisschen wie aus einer anderen Zeit. Dass das Sujet von „Im Schatten von Roubaix“ ­ihr Interesse wecken konnte, scheint folgerichtig, wenn man bedenkt, wie sie ihre Aufgabe begreift: sich mit Haut und Haaren in Universen zu stürzen, die andere sich ausdenken. Man mag das Vertrauen auf das Künstlergenie der Regie veraltet finden. Ihre Filme aber wählt ­Seydoux strikt nach solchen Visionen aus. Mit ­Desplechin zu arbeiten, öffne „Türen zu neuen Bedeutungen“, hat sie gesagt. Sympathieträger kann man in seinem Stoff lange suchen. Aber das ist natürlich auch nicht der Punkt. Es geht ­Seydoux um etwas anderes: den Kopfsprung in Welten, die der eigenen Erfahrung völlig fremd sind.