Wie fühlt sich jemand mit Legasthenie, der versucht, einen Satz zu lesen? Die Antwort der Lerntrainerin und Förderpädagogin Roswitha Wurm: „Um das zu verstehen, drehen Sie sich zehn Mal schnell im Kreis und versuchen Sie, gleich nach dem Anhalten einen zehnzeiligen Zeitungsartikel zu lesen.“ Liest ein Mensch einen Text, verarbeitet das Sprachzentrum in der linken Gehirnhälfte eine Vielzahl von Informationen. Es fügt Buchstaben zu Wörtern zusammen, ruft ihre Bedeutungen ab und ordnet die Buchstaben den passenden Lauten zu. Bei Legasthenikern ist das anders: Bei ihnen können abweichende neuronale Aktivitäten in den Gehirnarealen nachgewiesen werden, die für die Sprachverarbeitung sowie die Unterscheidung und Einordnung von Lauten zuständig sind.
Weil die Betroffenen in einem mühseligen Prozess Buchstaben zu Wörtern zusammensetzen müssen, lesen sie oft stockend und langsam. Danach fällt es ihnen schwer, den Sinn des Gelesenen zusammenzufassen. Unwillkürlich kommen ihnen beim Schreiben Wortteile oder Buchstaben abhanden, sie fügen welche hinzu oder verdrehen und vertauschen sie. So wird aus einer „Wiese“ schnell eine „Weise“ oder aus einem „Segel“ ein „Esel“. Bundesweit sind etwa 3,5 Millionen Menschen von der Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) betroffen; viele von ihnen haben bis heute mit Vorurteilen zu kämpfen, wie die ARTE-Dokumentation „Legasthenie – Wir dachten immer, du bist dumm“ zeigt. Seit rund 130 Jahren wird zu Ursachen und Therapiemöglichkeiten der Lernstörung geforscht: Da Legasthenie in Familien gehäuft vorkommt, konzentrieren sich Wissenschaftler aktuell vor allem auf genetische Faktoren, die neurophysiologischen Prozesse sowie die Bedeutung von Umwelteinflüssen. Insbesondere im angloamerikanischen Raum wird derzeit aber auch untersucht, ob die LRS in anderen Bereichen besondere Begabungen mit sich bringen kann.
KREATIVE KOMPENSATION
Die Neurowissenschaftlerin Sally Shaywitz von der Yale School of Medicine hat dem Thema ein halbes Forscherinnenleben gewidmet – und steht dennoch vor vielen offenen Fragen. „Die wenigen belastbaren Studien, die wir bislang dazu haben, legen nahe, dass viele Menschen mit Legasthenie im Bereich des visuell-räumlichen Denkens, aber auch der Kreativität besondere Stärken aufweisen“, sagt die Wissenschaftlerin im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Woran das liegen könnte, sei jedoch noch nicht gut genug untersucht. „Es ist einerseits möglich, dass die Gehirne vieler Legastheniker von Anfang an auf eine Weise vernetzt sind, die diese Fähigkeiten fördert, andererseits aber auch, dass Menschen Kompensationsstrategien für ihre Lese-Rechtschreib-Schwäche entwickeln. Meine Erfahrung sagt: Es ist eine Kombination aus beidem“, so Sally Shaywitz.
Die Forscherin plädiert dafür, Legasthenie als eine neurologische Besonderheit und nicht als Defizit zu betrachten – eine Sichtweise auf die Lese-Rechtschreib-Störung, die nicht selbstverständlich ist. Bis Anfang der 1960er Jahre mussten betroffene Kinder oftmals in Sonderschulen lernen. Auch spezielle Beratungszentren, ein Nachteilsausgleich und viele Förderangebote in den Schulen wurden mühsam erstritten. Erst die Theorien der Schweizer Psychologin und Biologin Maria Linder aus den 1950er Jahren, denen zufolge die partielle Lernstörung in keiner Weise mit einer geringen Intelligenz zusammenhängt, haben Betroffene ein Stück weiter entstigmatisiert.
Legasthenie sollte als Besonderheit und nicht als Defizit verstanden werden.
Mittlerweile gibt es viele Möglichkeiten, Legasthenie schon früh im Leben zu behandeln: Auf spielerische Weise erarbeiten die Kinder sich, auch mithilfe digitaler Lernprogramme, die Zusammenhänge von Lauten, Buchstaben, Silben und Wörtern. Beteiligte Gehirnareale können ergänzend durch elektrische Impulse stimuliert werden. Zudem helfen spezielle Diktier- und Vorlesesoftwares, Textscanner sowie Korrekturprogramme betroffenen Menschen dabei, viele Nachteile im Schulalltag, bei Prüfungen oder in ihrem Berufsleben zu kompensieren.
Trotz all dieser Fortschritte leiden viele Kinder mit Legasthenie weiterhin unter einem niedrigen Selbstwertgefühl und Ausgrenzung. 40 Prozent von ihnen erkranken psychisch, zeigen aktuelle Studien. Und das nur, weil die Schrift für sie länger der unverständliche Code bleibt, vor dem jeder Mensch beim Lesen- und Schreibenlernen anfangs steht. „Ich benutze gern den Begriff der Neurodiversität, um Legasthenie zu beschreiben“, sagt die Forscherin Sally Shaywitz. DasKonzept wurde in den 1990er Jahren durch die Soziologin Judy Singer geprägt und soll einen Paradigmenwechsel einläuten. Der Grundgedanke ist, neurologisch bedingte Unterschiede in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen nicht (nur) als medizinische Diagnose zu betrachten, sondern als Ausdruck menschlicher Vielfalt. Ein nächster Schritt zu einer neuen Perspektive auf Legasthenie – ganz ohne längst widerlegte Vorurteile.