»Viel Nähe, viel Distanz«

Wie hat die Corona-Pandemie unser Liebesleben verändert? Wie beginnen und führen wir nun Partnerschaften? Der Psychologe Marcel Zentner zieht eine Zwischenbilanz.

Ein Pärchen umarmt sich
Foto: Joanna Nix-Walkup / Unsplash

 

ARTE Magazin Herr Zentner, Sie beschäftigen sich als Psychologe mit Liebesbeziehungen. Was hat die Corona-Zeit für Ihr Forschungsgebiet so interessant gemacht? 

Marcel Zentner Letztlich haben wir alle einem großen Experiment der Natur beigewohnt, das unsere üblichen Nähe- und Distanzbedürfnisse infrage gestellt hat. Wir wurden durch Lockdowns mit erzwungener Nähe konfrontiert und durch Kontaktbeschränkungen auf Distanz gehalten – eine wahnsinnig spannende Situation für die Forschung. Deswegen haben wir eine große Studie darüber konzipiert.

ARTE MagazinWelche Frage wollten Sie mithilfe Ihrer Erhebung beantworten?

Marcel Zentner Wir haben uns im Rahmen einer internationalen Stichprobe mit 3.000 Personen in unterschiedlichen Phasen der Pandemie die Zufriedenheit von Paaren mit ihrer Beziehung angeschaut. Hierfür haben wir Fragebögen mit verschiedenen Kriterien entwickelt. Es gab fünf Messzeitpunkte, die zwischen April 2020 und März 2022 lagen. Dieser lange Untersuchungszeitraum ist es, der unsere Studie von anderen Erhebungen unterscheidet.

ARTE Magazin Für welche Partnerschaften war die Corona-Zeit besonders schwierig? 

Marcel Zentner Bei dem größten Teil der Befragten, etwa 80 Prozent, nahm die Beziehungszufriedenheit über die Pandemiezeit tendenziell ab. Dies betraf ganz besonders Paare, die Fernbeziehungen führten, nicht zusammenlebten und sich wenig austauschen und kaum sexuell begegnen konnten. Eine weitere Gruppe von etwa zehn Prozent der Befragten reagierte sehr sensibel auf die politischen Maßnahmen. Ihr Wohlbefinden in der Partnerschaft nahm interessanterweise ziemlich genau zu den Zeitpunkten ab, an denen neue Regelungen wie Lockdowns oder Kontaktbeschränkungen durchgesetzt wurden.

Ein Pärchen küsst sich
Foto: Shingi Rice / Unsplash

ARTE MagazinGab es auch Beziehungen, die von den Veränderungen durch die Pandemie profitiert haben?

Marcel Zentner Was uns besonders überrascht hat, war, dass Paare mit Kindern von der sinkenden Beziehungszufriedenheit ausgenommen waren.

ARTE MagazinErstaunlich, oder? Man würde erwarten, dass die Kombination aus Homeoffice und Kinderbetreuung Partnerschaften besonders belastet hat.

Marcel Zentner Das stimmt. Wir erklären uns das so, dass sich durch die höhere Anwesenheit beider Eltern zu Hause die Aufteilung von Aufgaben, wie der Kindererziehung und Hausarbeit, verändert hat. Man weiß, dass eine als fair wahrgenommene Arbeitsteilung für die Stabilität einer Beziehung sehr wichtig ist. Zuvor haben aber Frauen den Großteil der Alltagslast getragen. Diese alten Rollenbilder hat Corona möglicherweise durcheinandergewirbelt. Einen Rückschritt in Sachen Gleichberechtigung durch die Pandemie, wie er medial diskutiert wurde, kann ich somit nicht bestätigen. Wir stecken aber noch mitten in der Erforschung dieser Effekte.

ARTE Magazin Haben Lockdowns und Abstandsregeln unsere Art, andere Menschen kennenzulernen, verändert?

Marcel Zentner Hierzu gibt es, soweit ich weiß, noch keine sicheren Erkenntnisse. Ich kann mir aber vorstellen, dass die eingeschränkte Möglichkeit, sich treffen zu können, Spuren hinterlassen hat. Zumindest zeigte sich in unserer Studie, dass der persönliche Kontakt, besonders im Bereich der Sexualität, durch digitale Kommunikation nicht ersetzt werden kann.

ARTE Magazin Lassen sich aus Ihren Erkenntnissen Rückschlüsse über langfristige Folgen der Pandemie auf unser Liebesleben ziehen?

Marcel Zentner Über den Untersuchungszeitraum hinweg haben wir keine Erholung der Beziehungszufriedenheit bei den Paaren gesehen. Es könnte also gut sein, dass die Corona-Zeit langfristige Effekte auf unser Liebesleben haben wird. Sollten wir noch einmal in eine solche globale Krise kommen, könnten sich politische Entscheidungs­träger an Ländern orientieren, in denen Partnerschaften beispielsweise von Einreisebeschränkungen ausgenommen waren – für Paare eine echte Erleichterung.

 

Zur Person
Marcel Zentner, Psychologe
Der Wissenschaftler ist Professor für Persönlichkeits­psychologie, Differentielle Psychologie und Diagnostik an der Universität Innsbruck. In seiner Forschung befasst er sich unter anderem mit Effekten von Gleichstellung auf die Partnerwahl.