Oh Gott, wie schrill

Little Richard war als queerer Künstler in den 1950ern eine Sensation. Seine frühen Songs revolutionierten die Popkultur und initiierten den Siegeszug des Rock ’n’ Roll.

Little Richard Künstler 1950er-Jahre Popkultur
Foto: Michael Ochs Archives/Getty Images

Die bange Frage, ob Gott ihn liebe, muss ihn zerrissen haben. Ihn, den Schreihals, den geschminkten Paradiesvogel mit der adretten Pompadour-Frisur. „Ich war einer der ersten Schwulen, die sich geoutet haben. Aber Gott ließ mich wissen, Adam solle Eve lieben – nicht ­Steve“, sagte ­Little ­Richard (1932–2020) in einem TV-Interview mit ­Talkmaster David ­Letterman. So offen der Sänger und Pianist immer wieder zu seiner Sexualität und queeren Identität stand – die Angst vor der Hölle konnte der gläubige Christ nie ablegen. Der Dokumentarfilm „Little Richard: I Am Everything“, den ARTE im April zeigt, ergründet den Zwiespalt des Ausnahmekünstlers und die US-Musikethnologin Fredara Hadley stellt darin die Frage: „Was würde es für die amerikanische Mythologie der Rockmusik bedeuten, wenn man sagen würde, dass ihre Pioniere schwarze, queere Menschen waren?“ Bis heute streiten sich Kritiker, wer denn nun der wahre King of Rock ’n’ Roll ist. ­Elvis ­Presley (1935–1977), Jerry Lee ­Lewis (1995–2022) – oder der Mann, der sich bei einem Konzert im Jahr 1953 so vorstellte: „Little Richard, King of the Blues … and the Queen, too!“

Aufgewachsen ist Little Richard in ärmlichen Verhältnissen und mit elf Geschwistern in Macon im Ostküsten-Bundesstaat Georgia, sein bürgerlicher Name war Richard Wayne Penniman. Seine Familie war konservativ und sehr religiös geprägt, wobei seine Mutter einer Freikirche angehörte und sein Vater in der vor allem bei Afroamerikanern beliebten African Methodist Episcopal Church predigte, in der bei Gottesdiensten oft ekstatisch getanzt und gesungen wurde.

 

Little Richard: I Am Everything

Dokumentarfilm

Freitag, 5.4. — 21.45 Uhr
bis 4.5. in der Mediathek

ALS DRAGQUEEN UNTER GLEICHGESINNTEN

Als Little Richard 14 Jahre alt war, wurde die Gospel- und Blues-Sängerin Sister Rosetta Tharpe (1915–1973) bei einem Tourstopp in Macon auf den begabten Sänger und Pianisten aufmerksam. Sie lud ihn ein, im Vorprogramm ihrer Konzerte aufzutreten. Zu dieser Zeit geriet der Jugendliche wegen seiner homosexuellen Neigungen immer wieder mit seinem Vater aneinander, weshalb er schon bald aus dem Elternhaus flog. Ermutigt von den Auftritten bei Sister Rosetta Tharpe schloss er sich mehreren in den USA herumreisenden Künstlertruppen an. Darunter auch „Medicine-Shows“, bei denen angebliche Wundermittel verkauft wurden – flankiert von sogenanntem Freak-Entertainment. Dabei trat Little Richard oft als Dragqueen unter dem Namen Princess LaVonne auf und lernte andere queere Künstler wie Esquerita kennen, die ihm halfen, seine extrovertierte Bühnenpräsenz zu verfeinern.

Gleich mit seiner ersten Studioaufnahme „Tutti Frutti“ (1955) gelang Little Richard ein Jahrhunderthit. Viele betrachten die Single mit dem rasant geklimperten Piano und dem aufreizenden Refrain („A-wop-bop-a-loo-bop-a-lop-bam-boom!“) als Urknall der Rock-’n’-Roll-Ära. Der Erfolg des Songs hatte jedoch eine unrühmliche Seite, die die systematische Benachteiligung von schwarzen Künstlern offenbarte: Das Plattenlabel Specialty Records hatte Little Richard zu – verglichen mit weißen Künstlern – miserablen Konditionen unter Vertrag genommen. Weder das millionenfach verkaufte und vielfach gecoverte „Tutti Frutti“ noch seine nachfolgenden Hits brachten Little Richard die finanzielle Sicherheit, die er verdient hätte. So ist auch zu erklären, warum es der Musiker Jahrzehnte später, als seine Karriere am Verblassen war, nötig hatte, Bibeln in Fernsehwerbesendungen zu verkaufen.

Nach der Trennung von Specialty Records im Jahr 1959 beschloss Little Richard eine mehrjährige Pause seiner Musikkarriere. Laut der von Charles White verfassten Biografie „The Life and Times of Little Richard“ (1984) wollte er sein „lasterhaftes und ausschweifendes“ Leben ändern – und durchlief dafür eine dreijährige Ausbildung zum Prediger. Nach kommerziell wenig erfolgreichen Experimenten mit Gospelmusik startete Little Richard ab 1964 ein erfolgreiches Comeback als Rockmusiker. Zwischenzeitlich dominierten immer mehr junge Bands die Charts, die Little Richard als entscheidenden Einfluss nannten – allen voran zwei Gruppen aus Großbritannien: The Rolling Stones und The Beatles.

Zwar konnte Little Richard mit seinen Platten in den 1960ern und den 1970ern kommerziell nicht an seine frühen Erfolge anknüpfen. Seine Live-Auftritte blieben aber stets explosiv und extravagant. Nicht zuletzt sein enormer Drogenkonsum – nach eigenen Worten gab er zeitweise bis zu 1.000 US-Dollar pro Tag für Kokain aus – sorgte dafür, dass sich Little Richard ab den 1980ern erneut zurückzog und seinem Glauben zuwandte. Als er im Jahr 2020 im Alter von 87 Jahren starb, würdigten ihn zahlreiche Musikgrößen als Idol: von Bob Dylan über Stones-Sänger Mick Jagger bis zu Bryan Ferry von Roxy Music, der über Little Richard sagte: „Er traf mich und den Rest meiner Generation wie ein Blitzschlag.“

Er traf mich und den Rest meiner Generation wie ein Blitzschlag

Bryan Ferry, Sänger der Band Roxy Music