Was den Deutschen das Nibelungenlied, ist den Briten ihre Artus-Sage – bloß mit weniger Drachen und Musik. Beide Mythen reichen zurück in den Urschlamm der Nationenbildung. Erzählt an den Lagerfeuern der Völkerwanderung, mit erster literarischer Blüte im Mittelalter und erneut wachgeküsst von der Romantik im 19. Jahrhundert, verlaufen ihre Popularitätskurven seither allerdings höchst unterschiedlich. Kriemhild, Siegfried und der übrige Nibelungen-Clan geistern heute vornehmlich auf Bayreuths Grünem Hügel durch den Wagnerschen „Ring“. Artus und seine Ritter hingegen erobern immer aufs Neue Historienfilme, Fantasy-Romane und Computerspiele.
Ein walisischer Mönch, Geoffrey von Monmouth, verlieh der keltischen Überlieferung in seiner „Historia Regum Britanniae“ um 1135 erstmals Schub. Geoffreys historisch zweifelhafte Geschichte der englischen Könige entstand in einer Zeit machtpolitischer Wirren auf der Insel. Artus, der sagenumwobene Herrscher und Heerführer, war da als identitätsstiftender Bezugspunkt ausgesprochen nützlich. Konnte sich doch jederzeit auf ihn berufen, wer die Britannier einig hinter sich scharen wollte.
Zum Durchbruch verhalf dem ur-britannischen Mythos rund 40 Jahre später allerdings ausgerechnet ein Franzose. Chrétien de Troyes verpflanzte König Artus aus dem als dunkel und wenig glamourös geltenden 5. Jahrhundert in seine eigene Epoche. Diese von der Kunstfreiheit gedeckte Geschichtsklitterung sollte sich als genialer Marketing-Trick erweisen. Die Verse priesen nun tugendhafte Ritterlichkeit mit Lanzenturnieren und Tafelrunde, womit der französische Dichter offenbar exakt den Geschmack der Zeit getroffen hatte. Chrétien begründete so mit dem Artus-Roman gleich ein ganzes Genre.
Bestseller des Hochmittelalters
Im deutschsprachigen Raum trugen unter anderen Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach dazu bei, den literarischen Stoff um Artus und seine Getreuen rasch zu einem hochmittelalterlichen Bestseller mit zahlreichen Abschriften werden zu lassen. Dass der Artus-Epik ein geschichtsfester Kern fehlte, schmälerte dabei nie ihren anhaltenden Erfolg auch im übrigen Europa.
Artus ist eine literarische Schöpfung in einer melodramatischen Erzählung
Denn selbst wenn man Zauberer Merlin, das magische Schwert Caliburn/Excalibur, Camelot und den Heiligen Gral als fiktionales Beiwerk wegstreicht, bleibt im Lichte der Forschung nicht viel Belegbares am britannischen Königsmythos. „Artus ist eine literarische Schöpfung in einer melodramatischen Erzählung“, sagt Miles Russell, Historiker und Archäologe an der Bournemouth University, in der ARTE-Geschichtsdoku „König Artus: Dichtung und Wahrheit“.
Tatsächlich waren die „Dark Ages“ in Britannien nach dem Abzug der letzten römischen Legionen um 400 n. Chr. wohl weit weniger dunkel und kriegerisch als lange angenommen. Die ansässige Bevölkerung, über viele Generationen romanisiert, trieb nachweislich weiter Handel mit dem Mittelmeerraum, auch von Tintagel in Cornwall aus, wo der Legende nach Artus geboren wurde. Es gibt keine Funde, die von blutigen Schlachten gegen angelsächsische Invasoren vom europäischen Festland zeugen. Vieles hingegen deutet auf friedliche Koexistenz und Vermischung von Einheimischen und Zuwanderern hin.
Die Artus-Epik aber braucht klirrende Schwerter, Merlins Magie und die mystische Insel Avalon, in deren Nebeln sich die legendenhaften Wege des Königs verlieren. Motive, die im Viktorianischen Zeitalter als Gegenentwurf zur technisierten Welt gut ankamen und zur Artus-Wiederbelebung in Kunst und Literatur führten. Selbst das Ankleidezimmer von Königin Victoria im Westminster Palace zierten Artus-Wandbilder. Da half es auch nicht, wenn US-Schriftsteller Mark Twain den Romantikern den Spiegel vorhielt. In „Ein Yankee am Hofe des König Artus“ schickte er 1889 einen Landsmann auf Zeitreise ins Mittelalter, wo es bei Twain alles andere als ritterlich zugeht.
Heftig verballhornt wurde der Mythos auch 1975 von der Komikertruppe Monty Python im Film „Die Ritter der Kokusnuss“. Ungeachtet dessen entstehen bis heute ironiefreie Artus-Romane und -Verfilmungen. Zwei jüngere Adaptionen jedoch floppten an den Kassen: „King Arthur“ (2004) und „King Arthur: Legend of the Sword“ (2017). Der Guardian lieferte einen Erklärungsversuch: „übertriebener männlicher Fokus“. Es scheint, der Artus-Sage im Kino fehlt schlicht das weibliche Element.