»Ich lief anders, atmete anders«

Ewig lockt das Rampenlicht: Im Film „Annette“ balanciert Marion Cotillard auf dem Drahtseil des Ruhms. Die Jagd nach Anerkennung kennt sie gut.

Porträt von Marion Cotillard
Foto: Jay L. Clendenin / Los Angeles Times / Contour by Getty Images

Wer das Universum von „Annette“ (2021) be-tritt, muss sich auf manches gefasst machen. Auf überwältigende Liebe und gefährliches Pathos, Schiffsüberfahrten und Paparazzi, toxische Männlichkeit, hölzernen Nachwuchs. Und auf sehr viel Gesang. Das Kunstmusical von ­Leos ­Carax verbindet absurde Theatralik und Gegenwartskultur und wurde dafür in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnet. ­Wieder stellt Carax, der mit „Die Liebenden von Pont-Neuf“ (1991) berühmt wurde und als Regisseur mit Sinn fürs Extreme gilt, ein ungewöhnliches Paar in den Mittelpunkt. Sie, Ann, ist Opernsängerin. Er, ­Henry, Comedian mit Hang zur kalkulierten Provokation. Angezogen vom Licht des anderen geraten sie in eine von der Öffentlichkeit gefeierten Romanze, die mit der Geburt ihrer Tochter aus dem Gleichgewicht gerät. Ann wird gespielt von ­Marion ­Cotillard, und es ist eine ihrer bisher ungewöhnlichsten Rollen. Was einiges heißt, denn ­die 47-Jährige ist nicht nur eine der renommiertesten Schauspielerinnen Frankreichs, sie hat auch längst den Sprung nach Hollywood geschafft. Zumindest die Materie des Berühmtseins dürfte ihr also vertraut sein.

Annette

Musicalfilm

Donnerstag, 18.5. — 21.50 Uhr
bis 15.6. in der Mediathek

Filmszene mit Marion Cotillard
Wechselhaft: Im Thriller „Allied“ spielte Marion Cotillard eine Agentin, die womöglich an zwei Fronten spitzelt – in jedem Fall aber an der Seite von Brad Pitt. Foto: Daniel Smith / Paramount Pictures via AP / picture alliance

ARTE Magazin Frau Cotillard, in „Annette“ buhlen Stars um die Gunst ihres Publikums. Wie wichtig ist Ihnen, was die Menschen über Sie denken? 

Marion Cotillard Grundsätzlich gibt es ein Bedürfnis nach Anerkennung, das nie erfüllt werden kann. Denn je mehr Bestätigung man bekommt, desto mehr will man auch. Wenn es darum geht, was die Leute über meine Arbeit denken – das ist für mich stressig. In der Kunst weiß man schließlich nie! Ich kann nicht sicher sein, dass ich es schaffe, einer Rolle gerecht zu werden. Das ist für mich der anstrengendste Teil meines Berufs: Wenn ich meine Arbeit vorzeige und nicht weiß, wie sie ankommen wird.

ARTE Magazin Im Film wird selbst das gemeinsame Kind zum Spielball, die Sucht nach Beifall bedrohlich. 

Marion Cotillard Sie kann zur Krankheit werden, mit der man ein Leben lang kämpft. Und die man an sein Kind weitergibt. Ann und Henry gelangen an einen Punkt, an dem ihr Erfolg nachlässt. Bei ihm ist sein Benehmen schuld, bei ihr liegt es daran, dass sie, sagen wir: anders lebt, um nicht zu viel zu verraten. Beide werden zu Monstern. Das halte ich für einen interessanten Aspekt: Was passiert, wenn man die Liebe des Publikums, die Anerkennung der Kollegen verliert? Man verliert sich selbst.

ARTE Magazin Leos Carax sagt von sich, seine Ideen entspringen dem Chaos. Juliette Binoche soll beim Dreh zu „Die Liebenden von Pont-Neuf“ fast in der Seine ertrunken sein. Mussten Sie an Ihre Grenzen gehen? 

Marion Cotillard Die größte Schwierigkeit lag wohl darin, dass wir unsere Gesangsparts direkt während des Drehens eingesungen haben. Normalerweise nimmt man bei Musikfilmen alles vorher auf und singt Playback, was natürlich irgendwie langweilig und leblos gewesen wäre. Wenn man beim Singen aber auch noch schwimmen, duschen oder Sexszenen mimen muss, beeinträchtigt das die Stimme. Ich war ständig außer Atem.

ARTE Magazin Wie sind Sie damit umgegangen? 

Marion Cotillard Man muss akzeptieren, dass etwas schiefgeht. Genau nach solchen Unfällen suchte ­Carax. Natürlich sollte ich trotz allem den Ton halten, was eine Herausforderung war. Wenn sich der Klang der Stimme durchs Rückenschwimmen verändert, mag das interessant klingen, falsche Töne sind aber nie gut. Sowieso der Operngesang: Ich bin keine Opernsängerin und hatte nur drei Monate zur Vorbereitung. Wobei ich natürlich selbst mit drei Jahren Vorbereitung keine Sopranistin geworden wäre; es dauert ein ganzes Leben, das zu meistern.

ARTE Magazin Sie verkörpern regelmäßig Frauen mit tragischem Schicksal, etwa Chansonsängerin ­Edith ­Piaf oder eine Waltrainerin, die ihre Beine verliert. Haben Sie einen Sinn für Außenseiterinnen? 

Marion Cotillard Ja. Vermutlich, weil ich mich selbst wie eine fühle. Das war zumindest in meiner Kindheit der Fall. Ich habe nie in eine Schublade gepasst, obwohl ich mich sehr bemüht habe, denn ich habe mich als Außenseiterin überhaupt nicht wohlgefühlt. Es war eine andere Zeit, heute mögen Kinder ihre Unterschiede. Aber ich wollte damals sein wie alle. Ich wollte selbstbewusst sein.

Porträt von Marion Cotillard als Edith Piaf
Für ihre Rolle als ­Edith Piaf in „La vie en rose“ erhielt sie den Oscar als beste Hauptdarstellerin. Foto: picture alliance / United Archives

ARTE Magazin Als Mädchen waren Sie extrem schüchtern, haben Sie einmal gesagt. 

Marion Cotillard Ich glaube, ich verstand die Beziehungen zwischen den Menschen einfach nicht. Das ist wohl der Grund, warum ich Schauspielerin geworden bin – um diese Beziehungen zu erforschen. Mir ging erst viel später auf, dass das meine Persönlichkeit ist und in gewisser Weise meine Gabe.

ARTE Magazin Sie sind in einer Künstlerfamilie aufgewachsen. Wie veränderte sich Ihr Leben, als Sie von einer Pariser Hochhaussiedlung aufs Land zogen? 

Marion Cotillard Nun, ich war überall unglücklich! Ob in der Großstadt oder auf dem Land, das machte wenig Unterschied. Die armen Pariser Vorstädte waren reich an Menschen, die aus verschiedenen Ländern kamen. Auf dem Land war es anders, dort war der Rassismus stärker ausgeprägt. Es war gewaltvoll.

ARTE Magazin Wie haben Sie das erlebt? 

Marion Cotillard Natürlich nur indirekt. Eine enge Freundin stammte aus Marokko, sie wurde damit konfrontiert. Mir kippten in der Schule zwei Jungs eine Flasche Eau de Cologne über den Kopf, um mich von dieser Freundschaft zu „reinigen“.

ARTE Magazin Die Situation hat sich nicht unbedingt gebessert. Was tun Sie, sollte die Rechtspopulistin ­Marine Le Pen eines Tages Präsidentin werden? 

Marion Cotillard Das wird hoffentlich nicht passieren. Dagegen müssen wir Widerstand leisten.

ARTE Magazin In „Annette“ geht es um den Kampf zwischen zwei Egos, aber auch um den Clash von Pop- und Hochkultur. Warum gilt Lustiges oft als anspruchslos? 

Marion Cotillard Ich finde Comedy und gerade Stand-up sehr interessant. Ein Comedian beobachtet seine Umgebung ganz genau und bringt Menschen dazu, über sich selbst zu lachen – das ist eine intelligente Kunst. Es ist anspruchsvoll, komisch zu sein und den richtigen Rhythmus zu finden. Für mich jedenfalls ist es harte Arbeit, den Clown in meinem Inneren freizulegen. Dass das nicht hoch angesehen ist, sagt vermutlich viel über die Welt aus, in der wir leben.

Den Clown in meinem Inneren freizulegen, ist harte Arbeit

Marion Cotillard, Schauspielerin

ARTE Magazin Läuft man als Schauspielerin Gefahr, in einer Fantasiewelt zu stranden?

Marion Cotillard Ich würde sagen, man kann darin verschwinden, was etwas anderes ist. Man schafft eine Verbindung zwischen sich selbst und der Figur, wodurch eine neue Person entsteht. Das kann riskant sein. Schließlich steckt man viel Zeit in das Vorhaben der Verschmelzung, manchmal Monate. Wenn die letzte Klappe fällt, muss man sich aus dieser Fusion wieder lösen. Es kann schwierig sein, zu sich selbst zurückzufinden und Gefühle loszuwerden, die nicht die eigenen sind. Und die einem auch nicht gehören sollten.

ARTE Magazin Ähnlich ging es Ihnen mit Edith Piaf, für deren Darstellung Sie den Oscar erhielten. Sie reisten bis zum Machu Picchu, führten schamanische Zeremonien durch, um Piafs Manierismen abzuschütteln. Warum fiel Ihnen der Abschied von der Rolle schwer? 

Marion Cotillard Weil ich gar nicht wusste, dass ich sie loswerden musste! Ich hatte wenig Erfahrung, dachte mir, wenn der Dreh vorbei ist, geht das automatisch. Was nicht der Fall war. Denn ich hatte viel an mir selbst verändert, körperlich etwa. Ich lief anders, sprach anders, atmete anders. Am Ende habe ich es hinbekommen, auch wenn ich die Erkenntnis, die damit verbunden war, ziemlich unheimlich fand.

ARTE Magazin Was steckte dahinter?

Marion Cotillard Ich konzentrierte mich noch einmal auf ­Piafs Kindheit, ihre Gefühle und Ängste, genau wie vor dem Dreh. Ihre größte Angst im Leben war es, allein zu sein, denn beide Eltern hatten sie verstoßen. Erst da ging mir auf, dass ich mich davor fürchtete, sie ebenfalls zu verlassen. Schließlich dachte ich: Sie ist schon wirklich lange tot, vermutlich braucht sie mich nicht mehr.

ARTE Magazin Sie engagieren sich seit Jahrzehnten für den Klimaschutz. Was halten Sie davon, wenn sich heute junge Aktivisten auf die Straßen kleben oder Farbe auf Kunstwerke spritzen? 

Marion Cotillard Nun, die Wissenschaft schlägt schon sehr lange Alarm. Und wenn die Leute, die das Sagen haben, darauf nicht hören, löst das Verzweiflung aus. Sie bringt Menschen dazu, lauter und brutaler zu werden. Diese Jugendlichen haben Kunstwerke mit Farbe beworfen, aber sie haben die Bilder nie beschädigt. Es ist eine verzweifelte Geste, und ich verstehe sie. Unsere Regierungen müssen begreifen, dass uns kaum noch Zeit bleibt. Die Situation ist gefährlich. Und wir überlegen noch nicht einmal, wie wir uns an das Chaos anpassen können, das wir verursacht haben. Stattdessen kleben wir Pflaster auf entzündete Wunden.

ARTE Magazin Was fordern Sie? 

Marion Cotillard Wir kennen die Probleme und wir kennen die Lösungen, wir haben die Mittel. Trotzdem warten wir. Ich weiß nicht, worauf! Das macht mich wütend. Als wegen Covid die ganze Welt stillstand, haben wir rasch Geld und Lösungen gefunden. Warum wenden wir nicht die gleiche Energie auf, um zu retten, was zu retten ist?

ARTE Magazin Was stimmt Sie optimistisch? 

Marion Cotillard Heute ist das Bewusstsein für Umweltfragen viel größer. Als ich in den 1990er Jahren versuchte, Plastik und Papier zu recyceln, musste ich sehr weit laufen. Die Leute dachten vermutlich, ich sei verrückt.

Zur Person
Marion Cotillard, Schauspielerin

Seit dem Durchbruch mit „La vie en rose“ (2007), der ihr gleich einen Oscar einbrachte, gehört die 1975 geborene Französin zur Hollywood-Klientel. Neben Blockbustern wie „Inception“ (2010) oder „The Dark Knight Rises“ (2012) spielt sie in Autorenfilmen, wie zuletzt Arnaud Desplechins „Frère et soeur“ (2022).