Ein Leben zwischen Businessclass, Drogenbossen, Mördern und Zirkusleuten: Martin Suter lässt die Leserschaft tief eintauchen in seine literarische Welten. Was treibt den 75-jährigen Schweizer an, dem ARTE ein Porträt widmet? Für ein Gespräch mit dem ARTE Magazin schaltete sich der Autor aus seinem Züricher Wohnzimmer zu.
ARTE Magazin Herr Suter, wie schreiben Sie am liebsten?
Martin Suter Ich schreibe jetzt wieder von Hand, aber mit einer Hightech-Maschine: einem reMarkable Tablet. Immer dort, wo es mir gerade Spaß macht, ein paar Stunden am Tag. Im Garten, im Zug, im Flugzeug oder in Wartezimmern, in denen man im Alter immer öfter ist. Ich richte mich nach dem Stundenplan meiner Tochter und schreibe, wenn wir gerade nichts zusammen machen. Die meisten Bücher habe ich früher in Guatemala geschrieben. Dann auf Ibiza, als wir dort noch ein Haus hatten, jetzt sind wir häufiger in Marrakesch.
ARTE Magazin Sie brauchen Distanz, um etwas aus der Nähe beschreiben zu können, haben Sie einmal gesagt.
Martin Suter Für mich ist das Schreiben keine Reportage. Das Gedächtnis macht einen Teil der Arbeit von allein: das Unwesentliche vergessen und das Wesentliche behalten. Mit Distanz, zeitlich und geografisch, gelingt das besser. Wenn ich im Garten sitze und über einen Nussbaum schreiben will, ist das etwas ganz anderes, als wenn ich dabei in der Wüste sitze. Das hat viel mit Reduzieren zu tun. Man muss wissen: Was macht einen Ort aus? Ist es am Strand in Heiligendamm der Zigarettenstummel oder sind es die getrockneten Algen? Um das zu erkennen, hilft Distanz, Weglassen und Vergessen.
ARTE Magazin Ihre Figuren finden Sie in sich und lassen sie beim Schreiben groß werden, sagen Sie. Hat eine Figur schon einmal mehr Platz eingenommen, als Sie wollten?
Martin Suter Nein, ich hoffe immer, sie wieder kleinzukriegen – vor allem die unangenehmen. Die Figuren machen natürlich nicht immer nur, was mir gefällt. Der Held von „Die dunkle Seite des Mondes“ wird ja zum Mörder. Das ist eine Eigenschaft, die ich lieber nicht haben möchte. Ich kann eine Figur dabei nicht völlig fertigmachen. Bei Figuren, die nicht so sympathisch angelegt sein dürfen, habe ich manchmal die Angst, dass ich sie zu sympathisch werden lasse.
ARTE Magazin Oft erfahren Ihre Figuren Veränderungen und Orientierungslosigkeit. Was fasziniert Sie daran?
Martin Suter Eine Geschichte ist einfach spannender, wenn ein Protagonist am Schluss anders ist als am Anfang. Der Prozess an sich interessiert mich nicht so, sondern die Reaktion der Figur auf die eigene Veränderung. Deswegen ist bei „Small World“ die Veränderung durch eine Krankheit entstanden, bei „Die dunkle Seite des Mondes“ durch ein Pharmazeutikum und bei „Ein perfekter Freund“ durch einen Schlag auf den Kopf. Orientierungslosigkeit ist mehr ein Kollateralschaden.
ARTE Magazin Auch in Ihrem neuen Roman „Melody“ verschwimmen die Grenzen zur Realität. Wollen Sie durch Ihre Geschichten eine neue Wirklichkeit erschaffen?
Martin Suter Bei „Melody“ ist mein wesentliches Thema – Schein und Sein – extrem präsent. Was ist Wahrheit und was Fiktion? Wer bin ich und wer könnte ich sonst noch sein? Eine neue Wirklichkeit würde ich es nicht nennen, aber es würde mich immer freuen, wenn jemand beim Lesen so von dieser Unwirklichkeit gefangen genommen wird, dass er die andere Realität vernachlässigt und die Straßenbahnstation verpasst.
ARTE Magazin Sie geben offen zu, Geschichten auch zu erfinden, um zu unterhalten. Rührt daher Ihre Motivation?
Martin Suter Möchte man mit Fiktion belehren oder erziehen? Das will ich nicht. Das heißt nicht, dass sie lustig oder oberflächlich sein muss. Sie kann auch ergreifend und tiefgründig sein. Ich verdiene mein Geld mit dem Schreiben, das ist die Motivation. Und es macht mir Spaß – da ist es einfach, motiviert zu sein. Spaß macht auch der Erfolg. Wenn niemand meine Bücher lesen würde, wäre ich wohl nicht mehr motiviert.
ARTE Magazin Sie waren Werbetexter, bevor Sie mit fast 50 Schriftsteller wurden. Wieso kam es erst so spät dazu?
Martin Suter In den 1960ern habe ich früh geheiratet und musste Geld verdienen. Deswegen bin ich in die Werbung gegangen. Für jeden abgenommenen Jägermeister-Spruch erhielt ich 500 D-Mark. Manchmal verkaufte ich 10 bis 15 Sprüche. Aber nach zwei Wochen waren die Mäuse meist weg. Ich habe wohl ein bisschen aufwendig gelebt.
ARTE Magazin Man kann nichts verpassen im Leben, behaupten Sie. Wie meinen Sie das?
Martin Suter In dieser Sekunde haben wir Millionen Sachen verpasst, da kommt es auf eine nicht an. Man sollte sich auf das konzentrieren, was man gerade tut. Ich finde das auch einen guten Ratschlag für Liebende. Nicht zu denken: Da gibt’s sicher einen Schöneren, Klügeren, Stärkeren. Die Angst, etwas zu verpassen, ist der Grund dafür, dass man vieles verpasst.