Christoph Schlingensief regte sich furchtbar auf, wenn ihn jemand Provokateur nannte. Noch schlimmer: „lustiger Provokateur“. Wer wie er in Wien Asylbewerber in Container pfercht und das Publikum über ihre Abschiebung entscheiden lässt, wer in Zürich Nazis auf die Bühne bittet und in Bayreuth am Schluss von Wagners „Parsifal“ ein Video eines verwesenden Hasen zeigt, nimmt den Begriff der Provokation in Kauf, würde man denken. Und doch hatte Schlingensief auch Recht mit seiner Allergie gegen das P-Wort.
Denn die Diagnose, es handle sich um reine Provokation, beendet jede Diskussion über die Wirkung von Kunst. Wer bloß provozieren will, überschreite die Geschmacksgrenzen des Publikums, um für sich selbst mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Der Narzissmus des Künstlers, so der versteckte Vorwurf, trete an die Stelle der Kunst.
Die eindrücklichsten Arbeiten Schlingensiefs, der 2010 starb, sind jene, die den Rahmen eines Filmes oder einer Theaterinszenierung sprengten. Das zeigt auch die dreiteilige Dokureihe „Störfaktor Kunst“, die ARTE am 2. Juni ausstrahlt. Bei Schlingensiefs „Hamlet“-Inszenierung 2001 etwa war die Aufführung selbst, als die Neonazis auf der Bühne ein bisschen Rechtsrock spielten und dabei Baseballschläger schwangen, eher läppisch. Meisterhaft hingegen war der Weg dahin, als Schlingensief die Stadt während der Proben mit einer Art Making-of in Atem hielt. Waren das wirklich aussteigewillige Rechte, die er ins Schauspielhaus karrte? Wer benutzte hier eigentlich wen?
Bei aktionistischer Kunst ist die Wirkung un-verzichtbarer Teil des Werks. Im Prinzip weiß das der Kulturbetrieb seit gut 100 Jahren, als Marcel Duchamp 1917 in New York City ein gewöhnliches Urinal ausstellte, die berühmte „Fountain“. Wichtig war nicht das Objekt aus dem Sanitärgeschäft, sondern die Diskussion um den Kunstbegriff. Nebst dem Publikum gibt es einen weiteren wichtigen Mitspieler bei provokativer Kunst: Es ist der Ort. Eine toll gespielte, den Text klug ausdeutende Theaterinszenierung kann auf Tournee gehen, ohne viel zu verlieren. Ortsspezifische Arbeiten dagegen können oft Grenzen einer Gesellschaft sichtbar machen, indem sie sie überschreiten. Zum Beispiel in Berlin, 1993: Die Künstlerin Katharina Sieverding ließ auf Einladung der jungen Kunstinstitution „Kunst-Werke“ 500 Plakate aufhängen. „Deutschland wird deutscher“ stand darauf in großen Buchstaben. Baden-Württemberg genehmigte Sieverdings Aktion nicht. In Berlin war sogar der zuständige Kultursenator dafür.
Brennende Asylunterkünfte
Hintergrund von „Deutschland wird deutscher“ waren zum einen brennende Asylunterkünfte im Westen wie im Osten der Republik. Im Titel spiegelten sich aber auch die Wiedervereinigung und die verbreitete Angst vor einem wieder erstarkenden Deutschland. Für beides bot Berlin das perfekte Bühnenbild: Stadt der Schreckensherrschaft, Stadt der Mauer und ihrer Überwindung, dann 1993 auch Stadt der vielen No-go-Areas für nicht-weiße Menschen. Wo heute horrende Mieten bezahlt werden, flanierten Bomberjackenträger mit Kampfhunden. Anfang Mai 2021 haben die „Kunst-Werke“ Sieverdings Aktion wiederholt. Die Kampfhunde sind umgezogen, die Diskriminierung blieb.
Bei Schlingensief und Sieverding haben das Publikum und der besondere Ort mitgespielt. Der Prozess war wichtiger als das Produkt, das am Ende realitätsdicht ausgestellt oder aufgeführt wird. Es sind Beispiele, die lange vor dem mobilen Internet und vor sozialen Medien über die jeweiligen Bühnen gingen. Die Digitalisierung änderte fast alles an der „sozialen Plastik“, wie Schlingensief nach Joseph Beuys seine Kunstaktionen nannte.Ein weiteres Beispiel: Das Putin-kritische „Punk-Gebet“ der russischen Gruppe Pussy Riot hat am konkreten Ort der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau 2012 eingeschlagen wie kaum ein aktionistisches Kunstwerk seither. Es trug dazu bei, den russischen Präsidenten Wladimir Putin als Autokraten zu entlarven. Und zwar sprichwörtlich im Prozess, der drei der vier beteiligten Frauen gemacht wurde und sie ins Gefängnis brachte. Eine Abordnung von Pussy Riot trat Jahre später mit einer ähnlichen Punk-Ästhetik auch in Berlin an einem subventionierten Kulturort auf. Und es blieb nichts übrig als eine verbrauchte Pose.
Provozierende Kunst braucht einen Ort, sie arbeitet mit dem Kontext. Social Media dagegen kann die Bilder der Aktionen von Ort und Kontext lösen. Twitter braucht beides nicht und reduziert eine künstlerische Aktion oft auf eine Botschaft, die man begrüßt oder ablehnt. Das markiert den Übergang von aktionistischer zu aktivistischer Kunst.