Viel mehr als nur Blut

Schluss mit der Scham: Lange Zeit galt die Menstruation als Tabuthema und wurde wissenschaftlich wenig untersucht. Inzwischen haben Forschende ihr großes medizinisches Potenzial erkannt.

Illustration Regelblutung Mentruation
Illustration: Amy Guip

Bereits in der Antike kursierten wilde Theorien über die Regelblutung: Plinius der Ältere machte menstruierende Frauen in seiner „Naturalis historia“ für verdorbene Speisen, unfruchtbares Saatgut und gar das Bienensterben verantwortlich. Der Kinderarzt Belá Schick schrieb noch vor rund 100 Jahren über das angebliche „Menstruationsgift“ Menotoxin, das er in Blut und Schweiß der Frauen vermutete. Im Jahr 1958 wurden seine Theorien zwar medizinisch widerlegt, der Mythos von der unreinen Frau überlebte dennoch: Die Regelblutung wird bis heute oftmals mit Schwäche oder Krankheit verknüpft. Und auch in der Wissenschaft wurde das Thema lange ausgeklammert, wie die ARTE-Dokumentation „Die Kraft des Zyklus: Neue Forschung, alte Tabus“ zeigt.

Die Kraft des Zyklus: Neue Forschung, alte Tabus

Wissenschaftsdoku

Samstag, 17.2.
— 21.50 Uhr
bis 17.3. in der Mediathek

Dabei sei der Menstruationszyklus eigentlich ein „Glücksfall“ für die Forschung, sagt Martin Heni, Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum in Ulm, im Gespräch mit dem ­ARTE Magazin. Denn daran ließen sich Zusammenhänge zwischen Hormonen, Verhalten und seelischem Empfinden besonders gut untersuchen: „Der Zyklus ist wie eine Art natürlicher Versuchsaufbau für hormonelle Zusammenhänge, den wir ansonsten aufwendig simulieren müssten“, so Heni. „Aus den Erkenntnissen, die wir durch diese Untersuchungen gewinnen, lassen sich Rückschlüsse auf viele andere medizinische Fragen ziehen – die in vielen Fällen alle Geschlechter betreffen.“

So auch bei einer Studie, die der Arzt mit seinem Team 2023 in der Fachzeitschrift „Nature Metabolism“ veröffentlicht hat. Sie weist nach, dass das Gehirn je nach Menstruationsphase unterschiedlich sensibel auf das Hormon Insulin, das den Stoffwechsel und das Essverhalten beeinflusst, reagiert. Heißhungerattacken und Stimmungsschwankungen, von denen viele Frauen vor und während der Periode berichten, können die Folge sein. Zudem zeigt die Studie, unter welchen Umständen das Gehirn in der Lage ist, seine Empfänglichkeit für Insulin „an- und abzuschalten“. Eine Erkenntnis, die weitreichende Auswirkungen auf die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Diabetes haben könnte. Dies könnte auch den Einfluss des Hormons auf den Stoffwechsel, das Essverhalten und das Wohlbefinden gesunder Menschen erklären.

DER ZYKLUS: EIN FELD DES NICHTWISSENS

Wenn der Menstruationszyklus so wertvoll für die Wissenschaft ist, warum ist er dann bis heute so wenig erforscht? Dieser Missstand lässt sich einerseits auf eine lang herrschende Wissenschaftskultur zurückführen, die auf tradierten Geschlechterverhältnissen basierte: Bis in die 1980er Jahre diente nahezu ausschließlich der männliche Körper als medizinisches Modell. Erst nach langen Kämpfen von Aktivistinnen werden Medikamente seit den 1990er Jahren auch vermehrt an Frauen getestet sowie systematisch erforscht, welche Auswirkung die Geschlechterdifferenz auf die Entstehung und Therapie von Krankheiten hat. Andererseits kämen auch einige ganz praktische Probleme hinzu, vor denen die Forschenden stünden, sagt Martin Heni. So seien Frauen, die in Deutschland an klinischen Studien mit Medikamentengabe teilnehmen, gesetzlich dazu verpflichtet, doppelt, also zumeist mit Pille und Kondom, zu verhüten. „Eigentlich eine sinnvolle Regelung, um gebärfähige Frauen und ungeborene Kinder zu schützen“, so Heni. „Sie führt aber zu dem Problem, dass es über einen großen Teil der Bevölkerung – also Frauen, die einen Zyklus ohne hormonellen Einfluss durch die Pille haben – keine gute Datenbasis gibt, was die Therapie von Krankheiten oder die Wirkung von Impfstoffen angeht.“

Während der Corona-Pandemie wurden im Zuge der Testung von mRNA-Impfstoffen vermehrt die Wechselwirkungen mit der Menstruation untersucht. Für Heni eine wichtige Entwicklung. Künftige wissenschaftliche Studien sollten zusätzlich auch die Wechseljahre oder Schwangerschaften in den Blick nehmen, fordert er. All das wäre ein nächster Schritt zu einer wissenschaftlich fundierten Perspektive auf den Zyklus – ganz ohne längst widerlegte Mythen.

Der Menstruationszyklus ist ein Glücksfall für die Forschung

Martin Heni, Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie