Europa braucht Einwanderung, um lebendig und wettbewerbsfähig zu bleiben, das ist bekannt. Wie schnell sich der Kontinent in Krisenzeiten jedoch in eine Festung verwandelt, beleuchtet die Dokumentation „Die neuen Europäer“ aus der ARTE-Reihe „Europa. Kontinent im Umbruch“. Ein Gespräch mit der Migrationsforscherin Naika Foroutan über Lehren aus dem Schicksalsjahr 2015, Migration als globales Phänomen und die Notwendigkeit, umzudenken.
arte Magazin Frau Foroutan, 2015 entschied sich Angela Merkel zur Aufnahme Hunderttausender Flüchtenden aus Syrien – wofür sie gelobt, aber auch kritisiert wurde. Eine historische Entscheidung?
Naika Foroutan Aus meiner Sicht war das der Moment, von dem an niemand mehr bestreiten konnte, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Was den Arbeitsmarkt betrifft, ist ja schon länger bekannt, dass wir allein in Deutschland mindestens 400.000 Migranten jährlich brauchen, um den Bedarf zu decken.
arte Magazin Sie plädieren dafür, Migration als Chance zu sehen, nicht als Problem.
Naika Foroutan Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ wurde vor allem humanitär-idealistisch interpretiert. Ich glaube aber nicht, dass sie ihn so gemeint hat – zumindest nicht ausschließlich. Ich denke, ihr war ziemlich klar, dass die massenhafte Migration für Deutschland wirtschaftlich sinnvoll war – auch wenn das Unkontrollierte nicht ideal war. Unser Arbeitsmarkt war und ist ausgetrocknet.
arte Magazin Lassen sich die durch den Syrienkrieg ausgelösten Migrationsbewegungen mit der durch Russlands Angriffskrieg verursachten Situation vergleichen?
Naika Foroutan Es liegen noch keine empirischen Daten vor, ich kann mich nur an einige Gedanken herantasten: Anders als 2015 schultert im Moment Polen die Hauptlast. Das ist ein großer Rehabilitationsmoment für das Land, da kehrt sozusagen der verlorene Bruder in die europäische Familie zurück. Es ist unglaublich spannend, das zu sehen: Bis vor Kurzem hätten viele noch darauf gewettet, dass Europa auseinanderbricht. Jetzt passiert das Gegenteil – und die Migrationsfrage wird zum Versöhner!
arte Magazin Welche Lehren wurden aus der Flüchtlingskrise 2015 gezogen?
Naika Foroutan Deutschland hat vor sieben Jahren gezeigt, dass es 1,2 Millionen Menschen aufnehmen kann – trotz der Unkenrufe, dass es durch die sogenannten kulturfremden Migranten kollabieren werde. Das Land hat die Krise gemeistert. Diese Erfolgsgeschichte könnte jetzt als Blaupause dienen.
arte Magazin Sie sprachen vom Arbeitsmarkt – wie groß wird der Einfluss der aktuellen Migrationsbewegung sein?
Naika Foroutan Wie gesagt, der Arbeitsmarkt ist ausgetrocknet, und zwar in ganz Europa. Das wurde noch nie so deutlich wie im vergangenen Winter, als die fehlenden Lkw-Fahrer in Großbritannien in Europa zu Versorgungsengpässen führten und Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen wegen Personalmangels kurz vor dem Kollaps standen. Da hat man gemerkt, dass es ein Irrtum war, zu glauben, es fehle lediglich an qualifizierten Fachkräften. Nein, es fehlt an Personal in der Pflege, der Lagerlogistik, in Supermärkten und bei Transportunternehmen …
arte Magazin Kanada mit seiner gesteuerten Migrationspolitik gilt als Vorzeigeland. Wäre dieses Modell eine Option für Europa?
Naika Foroutan Seitdem Kanada umgesteuert hat, durchaus. Auch dort hat man realisiert, dass nicht ausschließlich hochqualifizierte Arbeitskräfte benötigt werden. Sie nehmen inzwischen Relevant Skilled Workers auf, also Menschen mit relevanten Berufen. Und relevant sind eben auch Putz- und Pflegekräfte, Nannys und viele andere. Die Situation ist die: Auf einmal müssen wir alle auf dem Weltmarkt beispielweise um Lkw-Fahrer konkurrieren. Das ist etwas ganz Neues. Wir müssen Migration radikal neu denken und als weltpolitisches Steuerungselement betrachten.
arte Magazin Wo sollte Ihrer Ansicht nach sinnvolle Migrationspolitik ansetzen?
Naika Foroutan Womit steht Deutschland heute noch weltweit an der Spitze? Weder mit Hochtechnologie noch mit der Bundeswehr. Auch nicht mehr mit dem Ingenieurwesen. Sondern mit etwas, das erst mal eher unsexy klingt: mit dem dualen Ausbildungssektor. Mit diesem weltweit einzigartigen System können wir in nur drei Jahren so gut wie jeden fundiert ausbilden. Darin steckt ein enormer integrativer Faktor, dieses Potenzial wird aber bisher viel zu wenig ausgeschöpft.
arte Magazin Schon jetzt steht Deutschland in absoluten Zahlen international an zweiter Stelle, was Einwanderung angeht. Was bedeutet das für die Zukunft?
Naika Foroutan Das verändert alles, den Arbeitsmarkt, das Bildungssegment, aber auch die Visualisierung des Deutschseins. Letzteres lässt sich übrigens im Privatfernsehen beobachten, bei Castingshows zum Beispiel ist ein migrantischer Anteil nichts Besonderes mehr. Ist ja auch kein Wunder, aktuell haben in Deutschland knapp 30 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Bei den Jugendlichen sind es 40 Prozent. Man kann sich leicht ausrechnen, dass wir als Gesellschaft auf diese 40 Prozent absehbar nicht verzichten können. Bereits für die Generation unserer Kinder wird Diversität einfach Normalität sein.