Wolf Biermann und seine Frau besuchen mich. Wolf ist 20 Jahre älter als ich. Er erinnert sich an den 4. Juni 1989 vor 30 Jahren und sagt, in Peking sind die Panzer in die Straßen gefahren und haben eure Demokratiebewegung niedergewalzt. Sie haben die Diktatur verteidigt und die DDR hat ihnen ein Glückwunschtelegramm geschickt. So hatten sie es ja immer gemacht, in Ungarn, in der Tschechoslowakei und am 17. Juni 1953 in der DDR. Und fünf Monate später hätten sie es fast auch wieder so gemacht. Leipzig war, genau wie Peking, ein Meer von Köpfen bis an den Horizont, nur alte Leute und Kinder blieben daheim, alle anderen gingen auf die Straße. Die Armee war bereit und hat auf Befehle gewartet. Aber es waren zu viele Leute, wenn sie geschossen hätten … Und so hat die Parteizentrale im Kreml um Rat gefragt, aber Gorbatschow hat geantwortet: Ihr müsst selbst entscheiden. Ich würde nicht schießen lassen, an eurer Stelle.
Der große Bruder sagt, er wird nicht schießen! Das war ganz anders als früher. Das Volk hat gesiegt, die Mauer ist gefallen. Dann ist die Sowjetunion auseinandergefallen, und Gorbatschow ist auch weggerissen worden von der Geschichte. Im Mai 1989 hat Gorbatschow ja China besucht. Damals war der Tian’anmen-Platz ein Menschenmeer. Die Regierung hat immer wieder verlangt, dass die Demonstranten abziehen, damit sie Gorbatschow dort empfangen können. Aber die meisten Leute sind geblieben, und so haben sie ihn am Flughafen empfangen. Die beiden KP-Führer haben konferiert, und Zhao Ziyang hat gesagt, alles hängt vom Genossen Deng Xiaoping ab. Und dann hat er abtreten müssen, weil er gesagt hat, was er nicht hätte sagen dürfen.
Eunuchen bewachen die Frauen hinter der Mauer
Wolf nimmt die Gitarre und erinnert sich an ein Lied: „Die KP, das sind die Eunuchen / sie bewachen die ganze Zeit die Frauen hinter der Mauer / wenn du ein Mann bist, lass dich kastrieren / dann erst geben sie Ruhe. / Wenn du keinen hochkriegst, wirst du nicht nach Freiheit verlangen …“ Nach Wolfs Logik haben Millionen von hochragenden Leuten den Tian’anmen-Platz besetzt und verlangt, dass die Regierung mit ihnen verhandelt, damit in China Demokratie verwirklicht wird. Und Deng Xiaoping, der ihn nicht mehr hochgekriegt hat, hat seine Leute angetrieben, die anderen schnell zu kastrieren. Angeblich hat der 90-jährige General Wang Zhen noch losgebrüllt: „200.000 töten, dann haben wir 20 Jahre Ruhe!“ Diese Zombies haben zusammen den Bürgerkrieg beschlossen. Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sind losgefahren, über 200.000 Soldaten sind in die Hauptstadt marschiert, in Richtung Tian’anmen. Und haben niedergewalzt und erschossen, was sich ihnen in den Weg gestellt hat, die Barrikaden und Hunderttausende an protestierenden unbewaffneten Menschen. Wer weiß, wie viele gestorben sind: Hunderte, Tausende, Zehntausende?
In dieser Nacht war [der Schriftsteller und spätere Friedensnobelpreisträger, Anm. d. Red.] Liu Xiaobo, der aus New York zurückgekehrt war, um an den Protesten teilzunehmen, noch auf dem Platz im Hauptquartier der Studentenbewegung. Zehn Kilometer entfernt hat das Massaker schon begonnen, aber er ist auf dem Sockel des Volksheldendenkmals und macht erbeutete Gewehre unbrauchbar, damit die vorrückenden Mörder keine leichten Ausreden haben. Später hat er einen autobiografischen Bericht geschrieben, das „Geständnis eines Überlebenden“. Als er mit den Studierenden „den letzten Rückzug“ antritt, gehen plötzlich alle Straßenlampen aus. In der Finsternis geben ihnen die mit Sturmgewehren und Bajonetten bewaffneten Kriegsrechtstruppen eine Gasse frei, durch die sie langsam in einer Kolonne gehen, wie Gefangene. Auf einmal, von vorne oder hinten, laute Schüsse, Panzer fahren auf den Platz, rattern über die Zelte der Protestierenden, die sie zurückgelassen haben.
Am nächsten Tag, vor der australischen Botschaft, zögert Liu Xiaobo ein paar Sekunden, lehnt die Einladung ausländischer Freunde ab und radelt davon. Bald darauf wird er auf der Straße verhaftet und kommt ins Qincheng-Gefängnis. 13 Jahre davor, kurz nach Maos Tod, haben Deng Xiaoping und seine Leute Maos Kaiserin Jiang Qing dort eingesperrt, bis an ihr Ende. Aber Liu Xiaobo überlebt, beugt sich dem Wunsch seines flehenden Vaters und legt live im Staatsfernsehen CCTV ein Geständnis ab – und falsches Zeugnis, er habe „auf dem Platz keinen Toten gesehen“. Nicht einmal zwei Jahre später ist er frei. „Ich hatte nichts mehr, außer meiner Lüge.“ Seitdem hat er bereut und versucht, seine Sünde wiedergutzumachen, das hat sein restliches Leben bestimmt. Er hat unzählige Petitionen und Aufrufe verfasst, den „Tian’anmen-Müttern“ geholfen und jedes Jahr ein langes Gedicht zum Gedenken der Toten geschrieben, voll mit Selbstvorwürfen. Er war vier Mal im Gefängnis und im Lager, am Ende ist er in Gefangenschaft gestorben, umgebracht worden.
An dieser Stelle muss ich schon weinen. In derselben Nacht bin ich, ein eingeschworener Feind der Politik, am Zusammenfluss des Jangtse und des Wu im Hafen von Fuling, in meiner kleinen Wohnung wie eine Ratte im Käfig herumgerannt, habe mein langes Gedicht „Massaker“ deklamiert und mit meinem jungen kanadischen Freund Michael Day aufgenommen. Michael hat auf seinem Radio einen Live-Bericht vom Tian’anmen hereinbekommen, am Ende mit den Schüssen und Schreien vom frühen Morgen des 4. Juni, auch dadurch war ich mittendrin. „… schießt durch die Schädel! Verkohlt ihre Kopfhaut! Lasst das Gehirn rausspritzen, die Seele rausschießen, auf die Unterführung, auf die Straßenbrücken, Gebäude, Geländer! Auf die großen Straßen! Schießt sie in den Himmel, dann werden sie Sterne! Die fliehenden Sterne! Sterne mit Menschenbeinen! Himmel und Erde werden verkehrt. Die Menschheit trägt funkelnde Hüte. Strahlende Helme. Ein Trupp Soldaten stürmt vom Mond herunter! Feuer! Feuer! Noch eine Salve! …“
Dieses Gedicht haben wir in mehr als 20 Städten verbreitet. Die Polizei hat uns über ein halbes Jahr gejagt, am Ende haben sie mich auf dem Bahnhof in Chongqing verhaftet. Ein paar Dutzend andere Dichter und Schriftsteller, die mein „Massaker“ weiterverbreitet haben, sind auch gleich ins Gefängnis gekommen. Damals war China ein riesiges Militärlager, überall hingen „Verbrecherposter“, auf Bahnhöfen, in Häfen, in den Straßen, in Wohnhäusern. Und sehr viele Leute waren entweder eingesperrt oder auf der Flucht. Im 20. Jahrhundert gab es zwei große Fluchtbewegungen aus China: 1949, am Ende des Bürgerkriegs, als die Kommunisten die Nationalisten besiegt hatten, flohen ungefähr zwei Millionen Leute nach Taiwan. Und 1989, nach dem Tian’anmen-Massaker, sind Hunderttausende politische Flüchtlinge ins Ausland gelangt. In der Geschichte der Migrationsbewegungen nach Europa und Amerika sind sie nicht wegzudenken.
Liu Xiaobo war immer der Mann des Tages
Liu Xiaobo und ich sind völlig verschieden. Ich habe in meinem ganzen Leben keinen einzigen politischen Text zu Ende gelesen, einschließlich der „Charta 08“. Ich habe alle seine unzähligen Petitionen unterschrieben und mir deswegen unzählige Schwierigkeiten eingehandelt, weil wir eben beide Schriftsteller sind und zur Kategorie der politischen Gefangenen von 1989 gehören. Liu Xiaobo und seine Frau Liu Xia haben immer bei mir übernachtet, wenn sie in Chengdu waren. Es war ihnen nicht zu schäbig. Liu Xiaobo war immer der Mann des Tages, in seinem Freundeskreis waren viele Reformkräfte in der Partei, Universitätsprofessoren, berühmte Leute aus Literatur und Film. Ich war nur ein kleiner Hinterwäldler aus Sichuan.
In der Wohnung des Dichters Mang Ke hat mich Liu Xiaobo zum ersten Mal vortragen gehört. Damals war er zum dritten Mal aus dem Gefängnis entlassen, und er wollte uns unbedingt etwas Gutes tun, mir und Zhongzhong, weil wir uns um Liu Xia gekümmert hatten, als er weg war. Seine Belohnung für mich bestand darin, dass er sich ständig um mich kümmerte, wenn ich in Peking war. Ich spielte einen Killer im Avantgarde-Film „Feiya-Fei“ („Flieg doch, flieg“) von Regisseur Li Ying. Liu Xiaobo hat davon erfahren und wollte uns Tipps geben. Li Ying hat einen Ausschnitt gezeigt, da trage ich das „Massaker“ vor. Es war schon spät, aber Liu Xiaobo fängt auf einmal laut zu heulen an, dass das ganze Haus wackelt, alle waren ganz erschrocken. In derselben Nacht noch hat er mir diesen Brief geschrieben:
Alter Liao,
du quälst mich. Wenn ich deine Stimme höre, frag ich mich, ob ich noch einen Grund hab, um weiterzuleben. Ich weine innerlich, aber nachher ist mein Leben ebenso schamlos und oberflächlich wie sonst. Die Menschen sind alle tot, nur Hundesöhne überleben! Bin ich ein Hundesohn? Sind wir Hundesöhne? Zu viel Selbstmitleid. Ein Hund hat noch seine Hundenatur, Scheiße, hat ein Chinese Humanität? Ein unmenschlicher Mensch und ein hündischer Hund, wem schenkt der Schöpfer Gnade, sicher dem Letzteren. Hunde sind besser als wir, Hundesöhne sind besser als unsere Nachkommen. Chinesen sind überhaupt nichts. Blut vergießen ist nichts, Verrat ist nichts, Vergessen ist auch nichts. Dieses eine „Massaker“, das hat dir vier Jahre Gefängnis gebracht; ich denke, das ist es wert. Gefangenschaft kann eher noch als Selbstvorwürfe und Reue das Gewissen trösten, das bisschen Gewissen, das noch existiert. Du solltest wirklich nicht mit ihnen zusammen vortragen, deine Welt ist schon längst eine andere. In der Schande leben, für das Blut der Unschuldigen, das ist für mich der einzige Grund, den ich finden kann. Der Tagesanbruch des 4. Juni, das war für mich der dunkelste und auch der röteste Tag. Und alle Tage und alle Nächte seither sind gar nicht finster und gar nicht rot. Wenn es eine Farbe für schamlos gibt, dann ist es nur diese Farbe.
Es wird nie ganz vergangen sein, selbst wenn wir eines Tages diese unschuldigen Opfer trösten könnten. Aber ich muss dir danken, mit einer wirklich seltenen Ehrfurcht sag ich dir: „Danke, mein lieber Glatzkopf!“
Xiaobo, 24. November 1999, zu Hause
Ich habe nicht geantwortet, habe nicht gewusst, was ich sagen sollte. Nach einem Monat hat er noch einmal geschrieben, hier ist ein Auszug:
Verglichen mit anderen Gestalten vor dem finsteren Vorhang des Kommunismus sind wir alle keine richtig harten Kerle. So viele Jahre Tragödie, und wir haben immer noch keinen moralischen Riesen hervorgebracht, jemanden wie [Vaclav] Havel. Wegen der Macht, die alle Menschen selbstsüchtig macht, brauchen wir einen moralischen Riesen, der sich selbstlos opfert. Um eine „passive Freiheit“ zu erkämpfen, die nicht von der Willkür der Macht abhängig ist, brauchen wir einen aktiven Willen zum Widerstand. Die Geschichte hat keine Gewissheit, ein einziger Mensch, der für Gerechtigkeit stirbt, kann die Seele eines ganzen Volkes gründlich verändern, die geistige Qualität der Menschen erhöhen. Gandhi war Zufall, Havel war Zufall, das Kind in der Krippe vor 2.000 Jahren war noch ein viel größerer Zufall. Die Erhöhung der Menschen kommt durch diese zufällig geborenen einzelnen Leute zustande. Wir können nicht auf das kollektive Gewissen der Massen hoffen, sondern wir sind darauf angewiesen, dass Einzelne mit großem Gewissen die schwachen Massen hinter sich sammeln. Besonders diese Nation: Wir brauchen noch mehr moralische Riesen, ein Vorbild kann Unzählige anstecken, ein Symbol kann so viele moralische Energien freisetzen. Etwa ein Fang Lizhi, der aus der US-Botschaft herausspaziert, oder ein Zhao Ziyang, der nach seiner Absetzung noch aktiv protestiert, oder ein Bei Dao, der nicht ins Ausland geht. Das Schweigen und das Vergessen nach dem 4. Juni 1989 hat sehr viel damit zu tun, dass wir keinen moralischen Riesen haben, der für uns alle aufsteht.
Der gute Wille und die Ausdauer von Menschen, das kann man sich vorstellen, aber die Bosheit und die Feigheit, das kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Jedes Mal, wenn eine große Tragödie stattfindet, bin ich überrascht von der Bosheit und von der Feigheit der Menschen. Aber dass es an gutem Willen und an Ausdauer fehlen wird, kann man getrost erwarten. Geschriebene Worte haben deshalb Schönheit, damit sie in der Dunkelheit Wahrheit aufblitzen lassen. Das Schöne ist der Sammelpunkt für die Wahrheit. Lärm und Pracht wiederum decken nur die Wahrheit zu. Der Klugheit dieser Welt gegenüber sind du und ich einfach nur Narren, uns bleibt nichts anderes übrig, als wie im alten Europa auf einem Narrenschiff im Ozean zu treiben, und das erste Festland, auf das wir stoßen, ist dann unsere Heimat. Wir leben nur deshalb, weil wir noch spüren, was uns im Herzen weh tut. Dieses Gefühl ist der blindeste und zugleich der wachste Zustand. Dieser Schmerz ist blind, weil er immer noch schreit, wenn alle anderen taub, gefühllos und angepasst geworden sind. Und er ist wach, weil er noch an das bluttriefende Messer denkt, wenn alle anderen schon das Gedächtnis verloren haben. In einem Gedicht an Liu Xia habe ich geschrieben: „Eine Ameise hat geweint, und du bist stehen geblieben.“
Xiaobo, 13. Januar 2000
Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte. Einmal einsitzen war für mich schon mehr als genug, aber er hat gesessen und wieder protestiert und Widerstand geleistet, und wieder gesessen, und so weiter. Später, als Präsident des unabhängigen chinesischen PEN-Clubs, hat er erst recht jeden Tag im Internet die Regierung angegriffen. Ende 2007 wollte er mir persönlich den Preis für Freies Schreiben überreichen. Das Hotel war gebucht, die Gäste waren eingeladen, aber dann hat man von dieser Verschwörung erfahren, er und Dutzende andere PEN-Mitglieder in Peking kamen in Hausarrest, mich haben drei Polizisten nach Sichuan zurück eskortiert.
Und ich habe ihn nie wieder gesehen. Sie haben ihn verurteilt, er hat wieder gesessen, hat den Nobelpreis bekommen. Ich war sicher, wir würden uns wieder über den Weg laufen. Seine beiden Briefe hatte ich allmählich vergessen, aber auch wenn ich oft an sie gedacht hätte, es wäre mir wohl nicht in den Sinn gekommen, bei dem „moralischen Riesen“, von dem er gesprochen hatte, an ihn selbst zu denken. Gandhi, Jesus, Havel, die waren alle weit weg, und dieser Xiaobo war mir zu nah und vertraut. Er würde eben unbedingt immer wieder einsitzen wollen, bis er unten herauskam … Aber man kann nie wissen, und plötzlich haben sie bei ihm Leberkrebs im Endstadium diagnostiziert, er kam ins Krankenhaus, wurde jedoch weiter rigoros überwacht. Nur zwei Dutzend Tage und er ist von uns gegangen. Ich habe geschrieben: „Ich möchte gerne, dass er nach Deutschland kommt, in der Nähe von meiner Wohnung ist der schönste Friedhof von Berlin. Dort gibt es einen See, über dem Wasservögel kreisen, dort kann er in Frieden ruhen, und wir können ihn oft besuchen …“
Aber die Diktatoren haben ihn nicht rausgelassen, sie hatten sogar Angst vor der Asche ihres berühmtesten politischen Gefangenen. „Ein einziger Mensch, der für Gerechtigkeit stirbt, kann die Seele eines ganzen Volkes gründlich verändern …“ Vor 30 Jahren hat der Befehl für das Massaker seine und meine Seele gründlich verändert.