»Die Ära der freien Medien ist vorbei«

Die Nowaja Gaseta, eine der letzten freien Zeitungen in Russland, darf nicht mehr erscheinen. Was ihren Chef ­Dmitri ­Muratow antreibt, erklärt der Filmemacher Patrick ­Forbes im Interview.  ­

Dmitri Muratow 2021 nach dem Erhalt des Friedensnobelpreises
Dmitri Muratow 2021 nach dem Erhalt des Friedensnobelpreises. Er versteigerte die Medaille und spendete den Erlös von 103,5 Millionen Dollar. Foto: Sefa Karacan /Anadolu Agency/picture

Dmitri Muratow ist einer dieser charismatischen Typen: groß, bullig, mit polternder Stimme und reichlich Prinzipien. Seit 1995 leitet er die Nowaja Gaseta, jene Zeitung, die in Russland bis zuletzt unabhängig berichtet hat. Etwa über die Kriege in Tschetschenien und der Ukraine. Manche ihrer Journalisten, wie die Reporterin ­Anna ­Politkowskaja, haben dafür mit dem Leben bezahlt. Inzwischen hat die ­Nowaja Gaseta ihre Drucklizenz verloren, erreicht ihre Leserschaft nur noch über eine Auslandsausgabe oder per Newsletter. Doch ­Muratow, der 2021 den Friedensnobelpreis erhielt, will weitermachen. Der britische Filmemacher Patrick Forbes hat ihn begleitet. 

Russland: Der Wahrheit verpflichtet

Dokumentarfilm

26.9. — 20.15 Uhr
bis 24.12. in der
Mediathek

ARTE Magazin Herr Forbes, Sie kennen Dmitri Muratow seit mehr als 20 Jahren, wie sind Sie einander begegnet?

PATRICK FORBESIm Chaos der Oligarchenjahre. Ich kam nach Russland, um einen Dokumentarfilm zu drehen und hatte erwartet, dass sich alles um Fußball, Blondinen, Alkohol und extremen Reichtum drehen würde. Stattdessen tobte ein Kampf um die Kontrolle des Landes. Es war völlig unklar, wer am Hebel saß: die Regierung, die Milliardäre oder der Geheimdienst. Im Aufzug meines Hotels gab es Einschusslöcher. Jemand sagte: Der Mann, mit dem man reden muss, ist Dmitri Muratow von der Nowaja Gaseta. Ich traf ihn in seinem mit Holz verkleideten Büro, er holte gleich den Whisky raus. Ich war bald sturzbetrunken, aber auch unglaublich beeindruckt von seiner Scharfsicht. Und von der Tatsache, dass er der Einzige war, der mir nichts vormachte. 

ARTE Magazin Muratows Bedingung für eine Dokumentation über ihn: Das Leben seiner Mitarbeiter darf nicht gefährdet werden. Hatten Sie Angst, dieses Versprechen zu brechen? 

PATRICK FORBES Das Gegenteil war der Fall. Als er den Nobelpreis erhielt, war klar, dass ihn das auf Kollisionskurs mit der Regierung bringt. Darum war es so wichtig, seine Arbeit zu dokumentieren. Wir wussten, dass wir sehr vorsichtig vorgehen mussten. Der Argwohn war gerechtfertigt, wie der Angriff auf seine Korrespondentin Jelena Milaschina zeigt.

ARTE Magazin Sie wurde im Juli in Tschetschenien entführt. Man schlug sie zusammen, rasierte ihr die Haare ab und übergoss sie mit grüner Farbe.

PATRICK FORBESSie wollte über einen Gerichtsprozess berichten. Als sie am Flughafen von Grosny ins Auto stieg, hat man sie attackiert. Sie wurde mit schweren Verletzungen am ganzen Körper und einem Hirnschaden ins Krankenhaus eingeliefert. Dima beschloss in jener Nacht sofort, sie zu holen, obwohl die tschetschenische Regierung ihm immer wieder gedroht hatte. Die beiden haben die Aktion mit ihren Handys gefilmt, diese Szenen haben wir gerade noch ans Ende unseres Films geschnitten. Wieso wussten die Angreifer auf die Minute genau, wo sich Milaschinas Auto befindet? Wie kommt es, dass genau zu diesem Zeitpunkt die Videoüberwachung ausfiel? Es gibt nur eine Antwort: Der Staat muss involviert sein. 

ARTE Magazin Andere Journalisten der Nowaja Gaseta hat man ermordet. Schützt Muratow sein Ruhm als Nobelpreisträger?

PATRICK FORBESIhm diese Frage zu stellen, habe ich stets vermieden. Ich persönlich denke, dass der Nobelpreis ihm einen gewissen Status verleiht. Trotz all ihrer Missetaten ist die russische Regierung kein völlig irrationaler Haufen. Sie wissen, dass er weltweit Ansehen genießt. Wenn man ihn verhaftet, sendet das ein Signal. Zweitens denke ich, dass die Tatsache, dass er seit Jahren konsequent und mutig an seiner Haltung festhält, in den Augen der Menschen im Kreml etwas bedeutet. Sie kennen ihn. Aber Russland ist ein schnelllebiger Ort. Nicht jeder in der Regierung denkt so wie diejenigen, die ihn derzeit nicht verhaften. 

ARTE Magazin Sie zeigen eine Pressekonferenz, auf der Putin Muratow zum Nobelpreis gratuliert. Dann streiten sie über das Mediengesetz, ziehen einen Vergleich zu den „Drei Musketieren“. Ich war überrascht, wie persönlich sie miteinander reden. 

PATRICK FORBESSie kennen einander seit Jahren. Obwohl die Nowaja Gaseta eine relativ kleine Zeitung ist, wird sie von vielen Menschen gelesen. Michail Gorbatschow saß im Vorstand. Das ist eine große Sache! Ich will hier keine plumpe Geschlechterpolitik betreiben, aber ihre Beziehung hat auch etwas von einem Männer-Zweikampf. Beide respektieren, dass der andere seine Meinung sagt.

 

Journalisten der Zeitung Nowaja Gaseta
Die Wahrheit hat es schwer in Russland: Wer sie ausspricht, gilt als Staatsfeind. Die Journalisten der Zeitung Nowaja Gaseta tun es dennoch, unter gefährlichen Bedingungen. Der Film zeigt, wie das Team und ihr Chefredakteur, der Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow (Foto l.), arbeiten. Foto: SWR/Yuri Burek

ARTE Magazin Hat Gorbatschows Tod die Zeitung geschwächt?

PATRICK FORBESJa, absolut. Sein Tod hat die Zivilgesellschaft insgesamt geschwächt. Das Tempo der Verhaftungen von Oppositionellen steigt. Und die Zahl der Menschen, denen verrückte Strafen drohen.

ARTE Magazin „Wir leben in einem Piratenstaat“, sagt Muratow.

PATRICK FORBESEs ist ein Piratenstaat, aber auf eine ganz andere Weise als früher. Vermutlich gefährlicher. Wenn einem vor Jahren ein Verkehrspolizist ans Autofenster klopfte, wusste man, dass man zehn bis hundert Dollar bezahlen musste, um weiterzufahren. Das gibt es nicht mehr. Heute ist die Lage heimtückischer. Wie an einem Hof der Renaissance, an dem Macht ohne Einschränkung ausgeübt wird. Jemand wie Alexej Nawalny verschwindet nun einfach. Es gibt keine moralischen Grenzen mehr. 

ARTE Magazin Wie erklären Sie sich die große Unterstützung für Putin?

PATRICK FORBESEr hat Chaos in Stabilität verwandelt und den Russen ein neues Gefühl von Stolz gegeben. Vor ein paar Jahren war Putins Herrschaft durchaus legitimiert. Man konnte ein normales Leben führen, ohne von Hyperinflation oder Schlägertrupps bedroht zu sein. Heute ist der Einfluss staatlicher Medien außerordentlich. Wenn man täglich hört, dass die russischen Soldaten einen weiteren Sieg errungen haben und überall jubelnd begrüßt werden, verzerrt das das Weltbild. Die Menschen glauben es. Sie wollen es auch glauben.

ARTE Magazin Viele wissen nicht, dass es keine freie Presse gibt?

PATRICK FORBESNein, sie haben keinen Grund, das zu denken. Weite Teile Russlands sind ländlich geprägt oder meilenweit von den großen Städten entfernt. Mit dieser Art von Realität kommt man nicht in Kontakt. Die Ära der freien Medien in Russland ist vorbei. Und das ist beunruhigend für das, was vor uns liegt. 

ARTE Magazin Wie meinen Sie das?

PATRICK FORBESEs klingt seltsam, aber: Eines Tages wird Putin nicht mehr Präsident sein, und es ist nicht sicher, dass es mit seinem Nachfolger besser wird. Es gibt dort angsteinflößende Leute, wie Prigoschins Marsch auf Moskau gezeigt hat. Teile des Geheimdienstes FSB ringen um die Kontrolle im Land. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass ein Abgang -Putins alles lösen würde. Laut Muratow gibt es noch intolerantere, illiberalere Kräfte, die sich im Hintergrund halten. Wenn Putin geht, könnte das paradoxerweise eine schlechte Nachricht sein. 

ARTE Magazin Erwarten Sie, dass die Nowaja Gaseta in alter Form zurückkehrt?

PATRICK FORBESIch hoffe es. Doch jeder, der behauptet, er könne die Zukunft Russlands vorhersagen, ist verrückt. Da halte ich es mit Winston Churchill: „Russland ist ein Rätsel, umgeben von einem Mysterium, das in einem Geheimnis steckt.“

Putins Abgang könnte alles verschlimmern

Patrick Forbes, Filmemacher

ZUR PERSON
Patrick Forbes, Regisseur

Der britische Filmemacher wurde mehrfach mit dem BAFTA Award ausgezeichnet. Er hat Dokumentationen über Wladmir Putin, Wikileaks und den Brexit gedreht.