Mitten im Kongo-Delta, im Grenzgebiet zwischen Angola und der Demokratischen Republik Kongo, liegt die Insel Kizunga Manianga. Auf den ersten Blick ein idyllischer Ort, inmitten eines Nationalparks, umgeben von mäandernden Flussarmen und dichten Mangrovenwäldern. Dort leben und arbeiten Muscheltaucherinnen wie Marie Velakutshi. Beinahe täglich begibt sich die Mittzwanzigerin mit ihren Freundinnen im trüben Wasser des Kongo, dem zweitlängsten Fluss Afrikas, bis zu dessen schlickigem Grund hinab, um dort Weichtiere einzusammeln: Galatea congica. Von den Einheimischen werden die wohlschmeckenden Muscheln Bibwati genannt.
150 oder mehr Tauchgänge absolvieren die Frauen der Manianga oft pro Tag, eine gefährliche Arbeit: „Bei Flut ist die Strömung des Flusses extrem stark“, sagt Velakutshi in der 360° Reportage „Die Muscheltaucherinnen vom Kongo-Delta“, die ARTE im September ausstrahlt. Doch auch bei Ebbe gilt: Wer sich nicht mit einer Rettungsleine an der Piroge festbindet – einem hölzernen Kanu, das die meisten Taucherinnen nutzen, um ihrem Job nachzugehen –, kann schnell aufs offene Meer getrieben werden. Und von dort seien nur wenige wohlbehalten zurückgekehrt, so Velakutshi.
Die starke Strömung ist beileibe nicht die einzige Gefahr: Immer wieder kommt es zwischen bewaffneten Schmugglerbanden und Grenzpatrouillen zu Schießereien und Verfolgungsjagden auf der vielbefahrenen Wasserstraße. Und wenn nicht gerade solche Gefahren lauern, warten womöglich Nilpferde im Fluss oder hungrige Krokodile an den Ufern.
Rund 50.000 Menschen leben auf Hunderten kleinen Inseln im Nationalpark, die meisten in einfachen Verhältnissen. Für viele von ihnen sind die Bibwatis ein essenzieller Teil der Lebensgrundlage. Das Fleisch der Muscheln ist sehr nahrhaft, und auf den Märkten im Umland herrscht eine große Nachfrage, denn aus den Schalen wird traditioneller Schmuck hergestellt, der bei Touristen begehrt ist. „Wir könnten viel mehr Muscheln auf dem Markt loswerden, aber die Ernte fällt von Jahr zu Jahr spärlicher aus“, sagt Marie Velakutshi. „Unsere Kinder werden nicht mehr vom Muscheltauchen leben können, was letztlich ein Segen ist, denn die Arbeit ist anstrengend und schlecht bezahlt.“ Wenn es gut läuft, verdienen die Taucherinnen umgerechnet rund 100 Euro pro Monat.
Den dramatischen Rückgang der Muschelpopulation führen Ökologen vor allem auf zwei Faktoren zurück: Zum einen hat der Grad der Verschmutzung des Flusses in jüngster Zeit deutlich zugenommen, weil Erdölkonzerne und andere Industriebetriebe ihre Abwässer oft ungefiltert einleiten. Zum anderen finden die Muscheln im Delta immer weniger Nährstoffe, was unter anderem daran liegt, dass die Mangroven an den Uferzonen der vielen Mündungsarme abgeholzt werden.
„Obwohl die Mangrovenwälder der Region seit 1992 unter Schutz stehen, weil sie das Wasser reinigen und für das ökologische Gleichgewicht der Region eine immens wichtige Rolle spielen, werden sie rücksichtslos gefällt“, sagt Grethel Aguilar, Direktorin der International Union for Conservation of Nature. Aus den Stämmen wird Holzkohle gewonnen, meist unmittelbar in Flussnähe – wobei zudem viel klimaschädliches CO₂ in die Atmosphäre gelangt. Die Jagd auf kriminelle Köhler steht für die Ranger im Nationalpark daher ganz weit oben auf der Agenda.
Nationalpark mit Verfallsdatum
Neben Umweltverschmutzung und illegaler Köhlerei ist auch der Anstieg des Meeresspiegels ein Problem – gleichermaßen für die Menschen und die Mangroven im Kongo-Delta: Die Pflanzen sind auf stabile Wasserstände angewiesen und reagieren auf Änderungen in der Sedimentdynamik des Flussbettes äußerst empfindlich, warnen Forschende in einer 2023 veröffentlichten Unesco-Studie. Und die Inselbevölkerung verliert infolge des steigenden Meeresspiegels peu à peu ihren Siedlungsraum. „In zwei bis drei Jahrzehnten könnten die sandbankähnlichen Landflächen bereits überspült sein“, heißt es in der Studie.
Oder sie fallen schon viel früher den Baggern zum Opfer: Dort, wo seit rund 30 Jahren die Manianga und andere indigene Volksgruppen im Schutz des Naturparks leben, soll nach dem Willen der kongolesischen Regierung und internationaler Logistikkonzerne in wenigen Jahren ein riesiger Hafen entstehen, über den Bodenschätze aus dem Kongobecken in alle Welt exportiert werden können.