Das Thema häusliche Gewalt hat viele Facetten. Entsprechend vielschichtig operiert das Justizdrama „Die Macht der Frauen“, das ARTE im November zeigt. Es schildert den Alltag betroffener Frauen – und die emotionale Odyssee, die eine Anklage der Täter für sie bedeuten kann. Natalia Wörner spielt die auf Sexualstrafrecht spezialisierte Anwältin Annabelle Martinelli, die durch die Schicksale ihrer Mandantinnen selbst an persönliche und professionelle Grenzen stößt. Für Wörner bedeutete die Rolle auch ein Wiedersehen, denn schon im Film „Wahrheit oder Lüge“ (2019) hatte sie die toughe Verteidigerin Martinelli verkörpert. Regie führte erneut Lars Becker, der auch das Drehbuch schrieb.
arte Magazin Frau Wörner, warum war Ihnen eine Fortführung der Geschichte von Anwältin Annabelle Martinelli so wichtig?
Natalia Wörner Nach dem ersten Film hatten Lars Becker und ich den Impuls, die Geschichte fortzusetzen. Durch Gespräche mit Frauen, die sich uns anvertraut haben, aber auch mit Anwältinnen und Anwälten, wurde immer deutlicher, wie viele Facetten des Themas Gewalt gegen Frauen dringend sichtbar gemacht werden müssen. Durch diese Eindrücke inspiriert, zeigt der zweite Teil der Reihe eine Bandbreite an Schicksalen. Annabelle Martinelli ist in der Geschichte der Fels in der Brandung und versucht, die unterschiedlichen Perspektiven aller Beteiligten professionell einzuordnen, was ihr jedoch nicht immer perfekt gelingt. Was ich an dem Film sehr mag, ist, dass er nicht alle Ambivalenz auflösen will, sondern die Grauzonen ausleuchtet. Eine Erzählweise, die man bisher im deutschen Fernsehen bei diesem Thema so noch nicht gesehen hat. Es ist ein sehr trauriger, aber auch sehr warmer Film geworden, der es bis zum Schluss schafft, Fragen aufzuwerfen, über die jeder Zuschauer selbst nachdenken kann.
arte Magazin Wie lässt sich der Titel „Die Macht der Frauen“ am besten erklären?
Natalia Wörner Den entscheide ja nicht ich, aber für mich steht der Titel für eine Zukunftsvision. Er beschreibt die Möglichkeit, erlebte Ohnmacht in Macht umzukehren, und die Kraft, die in diesem Prozess steckt. Vor einem anderen gesellschaftlichen Hintergrund lässt sich eine ähnliche Dynamik derzeit im Iran beobachten, wo sich die Wut der Frauen und auch Männer über ihre Unterdrückung Bahn bricht. Diese aktuelle Entwicklung bewegt mich sehr.
arte Magazin Was war für Sie schauspielerisch die größte Herausforderung?
Natalia Wörner Als Anwältin mit einem professionellen Blick hat Annabelle oftmals Entscheidungen zu treffen, die gerade vor dem Hintergrund von Sexualdelikten erst einmal nicht empathisch wirken. Sie muss aber ihre private Sichtweise stets von der beruflichen trennen. Genau diesen emotionalen Zwiespalt darzustellen, fand ich reizvoll. Psychologisch eindeutige Charaktere interessieren mich aber sowieso weniger. Mich faszinieren die Graubereiche.
arte Magazin Haben Sie sich auf die Rolle der Anwältin besonders vorbereitet?
Natalia Wörner Für Bürgerinnen und Bürger gibt es die Möglichkeit, einigen Gerichtsverhandlungen als Zuschauer beizuwohnen und Prozesse zu verfolgen. Ich habe viel Zeit in einem Berliner Gericht verbracht, um mir einen ganz genauen Eindruck von den alltäglichen Abläufen zu machen und eine Juristin glaubwürdig verkörpern zu können.
arte Magazin Welche Aspekte des Themas Gewalt gegen Frauen würden Sie gerne noch filmisch erforschen?
Natalia Wörner Für strukturelle Ungleichheit haben wir seit MeToo gesellschaftlich ein größeres Bewusstsein erlangt. Ich finde aber, dass insbesondere die Rolle der Männer noch lange nicht genug betrachtet wurde. Deren Perspektive hat für mich großes Potenzial. Auf dem Hamburger Filmfest wurde der Film erstmals gezeigt und mich hat es sehr berührt, mit welcher Hingabe männliche Zuschauer danach eine positiv ausgerichtete Diskussion über die Hilflosigkeit der Männer gesucht haben. Über diese Hilflosigkeit, die Ohnmacht der Männer, würde ich am liebsten noch einen weiteren Film drehen.
arte Magazin Sie setzen sich auch persönlich für Gleichberechtigung ein. Wie kamen Sie zu diesem Engagement?
Natalia Wörner Das hat viel mit meiner Herkunft zu tun. Ich bin in einem Vier-Generationen-Haushalt unter Frauen großgeworden, im Matriarchat. Das prägt.
arte Magazin Inwiefern?
Natalia Wörner Bei uns in der Familie lag die Autorität bei meiner Schwester, Mutter, Großmutter und Urgroßmutter. Mir wurde von Anfang an eine unideologische Emanzipation vorgelebt, die ich heute an jüngere Frauen weitergeben möchte. Aus diesem Selbstverständnis heraus habe ich begonnen, mich auch gesellschaftlich dafür zu engagieren. Mir ist es wichtig, den Wert von Gleichstellung und Toleranz aufzuzeigen und den Bewusstseinswandel in unserer Gesellschaft weiter voranzutreiben.