»Natürliche Sache«

Identität Wenn ein Kind sich nicht mit dem Geschlecht identifiziert, dem es zugewiesen wurde, ist das meist der Beginn eines Leidensweges. Die Gesetzeslage für transidente Kinder ist kompliziert, die Akzeptanz oft gering.

Illustration: Ramona Ring

Als Sasha geboren wurde, glaubten die Eltern, sie hätten einen Sohn bekommen. Doch ihr drittes Kind ist ein Mädchen. Sasha ist transident: Sie fühlt sich nicht dem Geschlecht zugehörig, das ihr bei der Geburt aufgrund äußerer Merkmale zugewiesen wurde. Was das für Sasha bedeutet, zeigt der Dokumentarfilm „Ein Mädchen“, der im Dezember auf ARTE zu sehen ist. Die Siebenjährige muss dafür kämpfen, so leben zu können, wie sie möchte. Zum Glück steht die ganze Familie hinter ihr. Das ist für viele transidente Menschen nicht selbstverständlich. ­Julia ­Monro, selbst transident und durch ihr bundesweit agierendes Projekt Transkids oft erste Ansprechpartnerin für transidente Kinder, weiß das. Im Interview berichtet sie, wie schwierig die Situation für transidente Kinder in Deutschland ist.

arte magazin Sasha ist erst sieben Jahre alt. Ist ihr Wunsch, ein Mädchen zu sein, vielleicht nur eine Phase?
Julia Monro Sie äußert diesen Wunsch, seit sie drei Jahre alt ist. Wenn Kinder sich so lange so sicher sind, kann man nicht mehr von einer Phase sprechen. Sie wissen genau, was sie wollen und wer sie sind. Wir müssen lernen, zuzuhören. Natürlich sagen Kinder nicht: „Mama, ich bin transident“, aber sie können sich mitteilen. Das dürfen wir ihnen schon zutrauen. Bei mir war einmal ein vierjähriges Kind in der Beratung; es zeigte mir in einem Buch einen Jungen und sagte: „Ich sehe so aus, aber ich bin so“ und zeigte auf ein Mädchen.

arte magazin Wie reagiert man auf so ein Coming-out?
Julia Monro Erst mal sollte man das Kind sich so ausdrücken lassen, wie es möchte. Es soll mit den Sachen spielen, die es interessieren, egal ob sie geschlechtstypisch sind. Vielleicht sollte man direkt hinterfragen, warum es überhaupt „geschlechts­typisches“ Spielzeug gibt. Und dann sollte man fragen, was das Kind möchte: andere Kleidung? Einen anderen Namen?

arte magazin Können Kinder denn auch schon ihren Vornamen ändern lassen?
Julia Monro Kinder können ihren Namen ändern lassen und Pubertätsblocker bekommen, also Hormone, die den Beginn der Pubertät hinauszögern, um mehr Bedenkzeit zu gewinnen. Dafür brauchen sie aber die Zustimmung der Eltern. Ohne die ist das Kind machtlos. Es gibt Hilfsangebote von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti) oder dem Jugendamt, aber oft wissen Kinder nicht, wie sie uns erreichen können. Sie haben das Gefühl, sich niemandem anvertrauen zu können. Wenn die Eltern sagen, dass etwas grundsätzlich falsch oder verboten ist, glauben Kinder das erst mal. Sie fühlen sich dann wertlos und schlecht.

Ein Mädchen

Dokumentarfilm

Mittwoch, 2.12. • 20.15 Uhr
bis 30.1.2021 in der Mediathek

Julia Monro wurde bei ihrer Geburt 1981 dem männlichen Geschlecht zugeordnet. Seit 2017 lebt sie als Frau und engagiert sich für die Trans*-Community.

arte magazin Sashas Familie unterstützt ihre Tochter. Das Umfeld, vor allem die Schule, ist weniger verständnisvoll.
Julia Monro Oft haben Schulen Angst, dass ihnen Identitätsverschleierung oder Urkundenfälschung vorgeworfen werden, wenn sie den selbst gewählten Namen des Kindes verwenden. Das ist aber Unsinn. Die dgti arbeitet mit dem Bildungsministerium an einer Handlungsempfehlung, um Schulen Orientierung zu bieten. Bisher warten viele Schulen eine offizielle Vornamens- und Personenstandsänderung ab.

arte magazin Wie kann man den Namen und Geschlechtseintrag ändern lassen?
Julia Monro Man stellt über das sogenannte Transsexuellengesetz einen Antrag beim Amtsgericht. Im Falle eines Kindes machen das die Eltern. Es braucht dann zwei psychologische Gutachten, die bestätigen, dass das Kind wirklich transident ist.

arte magazin Was sind das für Gutachten?
Julia Monro Die können sehr unterschiedlich ausfallen. Oft ist das ein traumatisierender Prozess. Es werden intime Fragen zum Sexualverhalten gestellt. Ein Junge hat mir berichtet, dass er gefragt wurde, ob er seine Schwester sexuell anziehend fände. In Berlin wurden einem 15-Jährigen angeblich sogar kinderpornografische Bilder vorgelegt. Dieser Fall liegt mittlerweile bei der Staatsanwaltschaft.

arte magazin Sogenannte Transsexualität zählte lange sogar als Krankheit.
Julia Monro Richtig, bisher galt sie laut Weltgesundheitsorganisation als psychische Störung, gelistet unter anderem neben Schizophrenie und Borderline.

arte magazin Jetzt ändert sich das?
Julia Monro Ab 2022 ist Transidentität als Körperzustand gelistet, wie zum Beispiel eine Schwangerschaft. Das heißt, es braucht immer noch eine Diagnose und Behandlung, aber es ist keine Persönlichkeitsstörung mehr.

arte magazin Wie würden Sie denn einem Kind erklären, was Transidentität ist?
Julia Monro Ich würde ihnen von Clownfischen erzählen wie in „Findet Nemo“. Die leben meist in Schwärmen aus lauter Männchen und einem Weibchen. Stirbt das Weibchen, wird das größte Männchen zum neuen Weibchen.

arte magazin Transidentität gibt es also nicht nur beim Menschen?
Julia Monro Das gibt es bei Tieren und Pflanzen genauso. Nur der Mensch macht daraus ein Problem. Dabei hat es nichts mit der Erziehung zu tun oder damit, ob sich die Mutter in der Schwangerschaft ein Mädchen oder einen Jungen gewünscht hat. Und schon gar nicht mit „Frühsexualisierung“, wie rechte Kreise gerne behaupten. Transidentität ist natürlich. Das Gehirn und die körperlichen Geschlechtsmerkmale entwickeln sich in unterschiedlichen Schwangerschaftswochen. Meistens entwickeln sie sich in die gleiche Richtung, aber eben nicht immer. Der Mensch hat da keinen Einfluss. Es ist die natürlichste Sache der Welt.