NEUE KOLUMNE

GROSSZÜGIGKEIT Unser neues deutsch-französisches Kolumnistenpaar wagt eine erste Annäherung. Ist dies der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?

Illustration: Uli Knörzer

Sehr geehrte Frau Pringle,

dies ist mein erster Brief an Sie, und sogleich will ich Ihnen etwas gestehen: Ich bin ein mittelmäßiger Mensch. Das ist nicht kokett gemeint, es ist von Amts wegen belegt. Lassen Sie mich dazu in meine Kindheit ausschweifen: Als ich ein Knirps in einer Dorfschule war, hatte ich eine Lehrerin, die das Notensystem ablehnte. In Deutschland reicht es von eins bis sechs. Vielleicht waren ihr die Zahlen zu kalt, war sie abergläubisch oder wollte modern sein. Jedenfalls bewertete sie die Leistungen mit eigenen Formulierungen: „prima“ für eine sehr gute Arbeit, ­„leider schwach“ für eine ungenügende. Unter eine durchwachsene schrieb sie: „in Ordnung“.

Nun besaß ich damals ein Album, in das ich meine Mitschüler schreiben ließ. Sie konnten ihre Lieblingsfarbe angeben, ihre Hobbys, ihren Traumberuf. Ganz unten gab es die Kategorie „Was ich dir schon immer sagen wollte“. Eines Tages gab ich auch der Lehrerin mein Album – und las unter der letzten Kategorie zu meiner Betrübnis: „Du bist in Ordnung.“ Sie hatte mir als Person eine Drei gegeben. Ich war mittelmäßig. Ich bin über diese Kränkung längst hinweg und fühle mich im Mittelmaß sogar recht wohl. Doch ich halte diese Anekdote für symptomatisch, ja für typisch deutsch. Meine Landsleute haben einen Hang, ihre Mitmenschen so kurzzuhalten wie den Rasen in ihren Vorgärten. Man muss schon Immenses leisten, um für „nicht schlecht“ befunden zu werden. Und wenn man es schafft, sollte man demütig bleiben. Ich glaube, in diesem Punkt unterscheiden sich unsere Kulturen, und wir können von der Ihren lernen. Stimmt mein Eindruck, dass die Französinnen und Franzosen besser gönnen können und die Exzellenten leidenschaftlicher verehren? Und wenn ja: Wäre es möglich, Madame Pringle, uns Deutschen diese Großzügigkeit beizubringen?

Hochachtungsvoll, Ihr mittelmäßiger
Dirk Gieselmann

Karambolage

Magazin
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Cher Dirk Gieselmann,

ich konnte es kaum erwarten, Ihren ersten Brief zu öffnen, und war höchst amüsiert zu lesen, dass Sie sich als mittelmäßigen Menschen bezeichnen. Für diese kunstvolle Art, meine Neugier auf Sie zu wecken, gibt es von mir ein „Prima“! Gestatten Sie mir, auf Ihre Erlebnisse Bezug zu nehmen, indem ich auf meine Kindheitstage in Paris zurückblicke. Da ich zur Schulzeit – sei es aus Provokation oder Faulheit – kaum mit Exzellenz glänzte, war die Null meine ganz eigene Façon, aufzufallen. Bei einem Notensystem, das von 1 bis 20 reicht, konnte die Lehrerin bei mir nichts mehr abziehen. Im Gegenteil, ihr blieb nur, etwas hinzuzufügen: ein Ausrufezeichen. Sie bewertete mein Totalversagen mit einer glatten Null, sprich einer „0!“. Mein Platz als Klassenletzte verlieh mir vor meinen Mitschülern eine gewisse Aura. So schleppte ich mich bis zum Abitur, dem Bac – welches ich selbstredend vergeigte. Mir war es somit verwehrt, Germanistik zu studieren, ein Privileg, das nur einem illustren Kreis vorbehalten ist, für den es in Frankreich ein Schlüsselwort gibt: l’élite. Sie sprechen einen wesentlichen Unterschied zwischen unseren Kulturen an. In der Tat, Bescheidenheit irritiert uns Franzosen. Wir streben danach, aus der Masse hervorzustechen. Keineswegs, um andere kleinzuhalten, sondern um zu überleben. Intellektuelle, Künstler und Leitartikler sind in meiner Heimat wahre Popstars. Sie signieren Petitionen und führen wilde Fernsehdebatten. Oft sind Letztere nichtige Kleinfehden, wie wir sagen „querelles de clocher“ – „Glockenturm-Streitereien“. Ein Bild, das Ihrem vom kurzgehaltenen deutschen Rasen entgegensteht: Bei uns will jeder wie ein Kirchturm emporragen. Sie möchten diese Kunst erlernen? Lassen Sie sich einfach fallen! Und: Meiden Sie allzu bescheidene Gesprächspartner, um sich ein müdes „Okay“ zu ersparen. Aber Vorsicht: Sie könnten bald merken, dass es dabei weniger um selbstlose Großzügigkeit geht als vielmehr um selbstgefälliges Brillieren.

Herzlich, Ihre glatte Null!
Colombe Pringle