Ein heißer Nachmittag im August. Katarina Witt sitzt in ihrem Potsdamer Fitnessstudio auf der Couch. Zur Begrüßung lacht sie – ein langes, tiefes und sehr sympathisches Lachen ist das. Später wird sie während des Gesprächs zwar auch etwas traurig, aber sie wird noch viel öfter lachen. Am liebsten dann, wenn die Fragen ernst werden. Wenn sie Sätze sagt, über die sie länger nachgedacht hat und die ein wenig schwermütig klingen könnten. Katarina Witt ist kein schwermütiger Mensch, aber eine Frau, die in ihrem Leben viel erlebt hat. Und darüber lacht sie selbst wahrscheinlich am liebsten.
ARTE MAGAZIN Frau Witt, wie groß ist Ihre Lust, über 30 Jahre Wiedervereinigung zu sprechen?
Katarina Witt Ehrlicherweise bin ich vom vielen Wiederholen meiner Lebensgeschichte langsam selbst etwas gelangweilt. Ich komme mir manchmal vor wie eine Schallplatte mit Sprung. Dieses Jahr feiern wir 30 Jahre Wiedervereinigung, letztes Jahr waren es 30 Jahre Mauerfall. Danach ist hoffentlich für zehn Jahre erst mal Schluss! Aber ich gebe zu: Je älter ich werde, desto mehr hänge ich den Erinnerungen nach. Nun fange ich gleich wieder zu heulen an. Für mich ist diese Zeit sehr emotional besetzt.
ARTE MAGAZIN Warum müssen Sie weinen?
Katarina Witt Die Melancholie wird im Alter einfach größer.
ARTE MAGAZIN Sind Sie sich in der Rückschau manchmal ein Rätsel? Staunen Sie darüber, was Ihnen insbesondere mit Ihrem zweiten Olympiasieg in Calgary 1988 gelungen ist?
Katarina Witt Ich bin mir selbst kein Rätsel.
ARTE MAGAZIN Das Duell zwischen Ihnen und der Amerikanerin Debbie Thomas wurde zur Konfrontation der Blöcke hochgeschrieben. Als ich die Aufnahmen angeschaut habe, bekam ich Gänsehaut, wie leichtfüßig und unbeeindruckt Sie trotz des enormen Drucks gelaufen sind. Wie haben Sie das geschafft?
Katarina Witt Weil ich so jung war. Heute könnte ich mich so einer nervlichen Belastung nicht mehr stellen. Das schafft man nur, wenn man nicht erfasst, was es bedeutet. Ich konnte diese Pressekonferenz mit 600 Journalisten nur absolvieren, weil ich eher unbeschwert war. Und es hat mir sehr geholfen, aus der abgeschotteten DDR zu kommen. Ich kannte ja diese Form von Medienrummel nicht, wir haben uns auf den Sport konzentriert.
ARTE MAGAZIN Wurden Sie Sportlerin, um dem Sozialismus zu dienen?
Katarina Witt Nein, natürlich nicht! Mir war aber immer bewusst, wie wichtig Sport in der DDR war. Das begann schon mit der Talentsuche im Kindergarten. Darum hatten wir auch ein erstklassiges Trainingssystem. Wir haben hart trainiert, Pflicht und Kür auf dem Eis, dazu Athletik, Ballett. Ich war stets gut auf alles vorbereitet, was ich auf dem Eis zeigen musste.
ARTE MAGAZIN Sie wurden oft zu Ihrem Verhältnis zum Staat befragt, immer wieder ging es dabei um Stasigeschichten. Über den Sport selbst wird auffällig wenig gesagt.
Katarina Witt Die Stasi hat mich sicher nicht zur Olympiasiegerin gemacht! Jutta Müller, meine Trainerin, war die beste Trainerin der Welt. Sie war morgens die Erste in der Eishalle, abends die Letzte. Hörte sie im Radio ein Stück, das ihr gefiel, rief sie dort an und ließ sich die Aufnahme schicken. Für die Kostüme suchte sie nach den besten Stoffen, bei Wettkämpfen hat sie meine Haare frisiert. Mir war früh klar: Wenn ich nach oben wollte, ging das nur mit ihr. Dieselbe Unerbittlichkeit, die sie uns gegenüber zeigte, zeigte sie auch gegenüber sich selbst.
ARTE MAGAZIN Was ist aus ihr nach 1989 geworden?
Katarina Witt Sie wurde aufs Abstellgleis geschoben und mit ihr viele großartige Trainerpersönlichkeiten aus dem DDR-Sport.
ARTE MAGAZIN In Ihrem Leben fallen zwei große Zäsuren ineinander: Nach den Olympischen Spielen 1988 wechselten Sie ins Profi-Geschäft und liefen fortan große Eisshows in Amerika. Dann brach die DDR zusammen. Sie hatten keine Möglichkeit, sich von Ihrem Land zu verabschieden.
Katarina Witt Das stimmt. Das eine ging ins andere über, weil ich einfach immer weiter Schlittschuh lief. Vielleicht bin ich daher so schnell emotional, weil mir das jetzt erst bewusst wird. Manchmal bin ich traurig, so jung gewesen zu sein und das Epochale des Umbruchs so nebenbei mitbekommen zu haben. Heute habe ich das Gefühl, die damaligen Veränderungen kommen wie verspätet bei mir an.
ARTE MAGAZIN Seit 2015 reden wir so offen über die Nachwendezeit wie nie zuvor. Das hat vor allem mit dem Rechtsruck in Teilen der ostdeutschen Gesellschaft zu tun.
Katarina Witt Die ersten Bilder der Pegida-Demos haben mich erschüttert und zutiefst erschreckt. Aber: Durch Pegida und den Einzug der AfD in den Bundestag 2017 ist man im Westen endlich aufgewacht. Man hat gesehen, da ist was schiefgegangen und die Wiedervereinigung ist zu einseitig bestimmt worden. Nun wurde verstanden, dass man anfangen muss, unsere Geschichten, unsere ostdeutschen Biografien zu akzeptieren. Ich bin beispielsweise ganz selbstverständlich mit Gleichberechtigung aufgewachsen. Im Eiskunstlauf haben Frauen sogar teilweise mehr verdient als Männer. Ich bewundere starke Frauen. Deshalb bin ich auch für Frauenquoten – und ebenso für eine Ostquote.
ARTE MAGAZIN Andererseits kamen nach 2015 auch sehr viele Ressentiments gegenüber Ostdeutschen an die Oberfläche. Plötzlich ging die Rede vom braunen Osten um.
Katarina Witt Je mehr ich in meinem Leben mit solchen negativen Meinungen konfrontiert wurde, desto mehr begann ich, mein Land zu verteidigen. Das war schon in den 1980er Jahren gegenüber Sportlern aus den westlichen Ländern so. Ich fühlte mich persönlich angegriffen. Was kann man denn dafür, in welchem Land man geboren wird und wenn man sich mit den Gegebenheiten arrangiert? Ich kann doch den Menschen nicht sagen: Ihr habt 40 Jahre in einem falschen Land gelebt. So nehme ich ihnen doch ihre Lebenszeit weg. In der DDR war vieles nicht in Ordnung, aber wir sollten aufhören, das Leben in der DDR auf die Defizite zu reduzieren.
ARTE MAGAZIN Welche westdeutschen Sportlerinnen würde man zur Wiedervereinigung befragen?
Katarina Witt Was sollten die wohl dazu sagen? Ich glaube, wir haben mehr zu erzählen. Die Wiedervereinigung hat definitiv das Leben aller Ostdeutschen verändert. Wir mussten mit den Veränderungen zurechtkommen und alles ohne Bedienungsanleitung neu lernen! Viele haben das gut geschafft. Ich bin froh und, Sie werden vielleicht lachen, aber auch dankbar, eine ostdeutsche Frau zu sein.
ARTE MAGAZIN So ein Satz zeigt ja, dass Sie das Gefühl haben, Ihr Ostdeutschsein positiv besetzen zu müssen.
Katarina Witt Ich merke oft, wie anders ich auf Situationen reagiere; und ich bin mir sicher, das hat damit zu tun, dass ich in der DDR aufwuchs. Ich kann mit unvorgesehenen Situationen, die sich vor allen Dingen nicht ändern lassen, zum Beispiel besser umgehen und bin gelassener.
Wir sollten aufhören, das Leben in der DDR auf die Defizite zu reduzieren
ARTE MAGAZIN Sollte man die Wiedervereinigung feiern? Das Thema weckt in vielen Ostdeutschen ambivalente Gefühle.
Katarina Witt Die Wiedervereinigung war richtig. Es wäre dennoch schön gewesen, man hätte die Ostdeutschen besser in das unbekannte Leben und neue Land geführt. Zumal bis heute versucht wird, uns in alte Schemata zu pressen. Ich habe 2019 in der taz über die Nachwendeerfahrungen der Ostdeutschen gesprochen. Wie traurig es war, zu sehen, dass unsere Elterngeneration ihre Jobs verloren hat und sie in der Blüte ihres Lebens damit als überflüssig betrachtet wurde. Als ich kurz darauf im Fernsehen interviewt wurde, freute ich mich auf einen Dialog. Doch ich wurde eher an den Pranger gestellt und gefragt, warum ich meine Stimme damals nicht gegen das Unrecht in der DDR erhoben habe. In vielen Gesprächen, auch privat, vermeide ich Ost-West-Themen mittlerweile. Wir haben gelernt, in Deutschland anzukommen, und immer noch nicht aufgehört, jeden Tag eine neue Lektion erteilt zu bekommen. Wir verstehen Westdeutsche, weil wir in beiden Systemen gelebt haben. Umgekehrt kommt das eher selten vor.
ARTE MAGAZIN Kann man nur verstehen, was man auch erlebt hat?
Katarina Witt Nein, das ist so auch nicht richtig. Aber man kann vieles nur wirklich nachvollziehen, wenn man es erlebt hat. Man muss den Dialog suchen, aber niemand hat das Recht, uns zu verurteilen.
ARTE MAGAZIN Sie gehören zu den Wenigen, die die DDR als ihr Heimatland bezeichnet haben. Warum?
Katarina Witt Ich gehe schon davon aus, dass die Mehrzahl der 18 Millionen Menschen, die damals die Wende erlebt haben, die DDR als ihre Heimat bezeichnen. Ich habe eine unbeschwerte, schöne und spannende Kindheit erlebt und habe meine Träume als Leistungssportlerin erfüllen können. Daher empfinde ich große Dankbarkeit, durch das DDR-Sportsystem so viel Unterstützung erfahren zu haben. Was ich heute bin, bin ich durch meinen sportlichen Erfolg. Und so erfolgreich konnte ich sein, weil ich so bin, wie ich bin. Wir haben in der DDR gelernt, bescheiden und rational zu bleiben. Daher ist sicherlich auch Angela Merkel so, wie sie ist. Sie erledigt die Dinge. Sie zelebriert sich nicht. Und Erfolge werden eher abgehakt. Ich glaube allerdings, das ist so ein Frauending: erledigen, abhaken, weitermachen.