»Relativ friedlich«

Um Nordirland war es lange ruhig – bis zum Brexit. Experte Duncan Morrow über neue alte Ängste auf der geteilten Insel und die Chancen für ein vereinigtes Irland.

Wandbilder in Belfast
Wandbilder in Belfast erinnern an Jahrzehnte blutiger Auseinandersetzungen zwischen katholischen und protestantischen Extremisten, „The Troubles“ genannt. Foto: Peter Bialobrzeski:laif aus der Serie “Belfast Diary”

Seit mehr als 100 Jahren ist Irland geteilt. 1921, nach Jahrhunderten britischer Herrschaft, ging der Süden der Insel als Irische Republik in die Unabhängigkeit. Nordirland verblieb beim Vereinigten Königreich. Damit war die Saat für einen neuen Konflikt gelegt. Katholische Republikaner und protestantische Unionisten bekämpften sich, zunächst mit Worten, dann mit Gewalt. Vor allem die paramilitärische Provisorische Irisch-Republikanische Armee (IRA) erlangte mit ihren Attentaten unrühmliche Bekanntheit über die Insel hinaus. Die ARTE-Dokureihe „Es war einmal in Nordirland“ blickt auf die bürgerkriegsähnlichen Zustände zwischen 1969 und 1998 zurück, „The Troubles“. Zwischenzeitlich befriedet, drohen nun mit dem Brexit alte Gräben wieder aufzubrechen, warnt der Belfaster Politikwissenschaftler ­Duncan ­Morrow – trotz gesonderter Verträge zu Nordirland.

ARTE Magazin Herr Morrow, wie wirkt sich der Brexit auf den  längst beendet geglaubten Nordirland-Konflikt aus? Durch den britischen EU-Austritt wäre beinahe eine neue „harte“ Grenze quer durch die Insel Irland entstanden. Nur dank zweier Zusatzverträge ist das vermieden worden.

Duncan MorrowDie Grenzfrage ist seit einem Jahrhundert das brisanteste Thema in der irischen Politik. 1998 handelten Großbritannien, Irland und Nordirland einen detaillierten Friedensschluss aus, das sogenannte Karfreitagsabkommen, mit dem ein sehr empfindliches Gleichgewicht in den Beziehungen zwischen Großbritannien und Irland hergestellt wurde. Der Brexit hat das zerstört. 

ARTE Magazin Inwiefern?

Duncan MorrowEr erfordert eine wesentlich strengere Regulierung des Handels zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, etwa durch Grenzkontrollen. Die wurden zwar in einem Kompromiss von der irischen Insel an die Seehäfen verlagert, aber die Unionisten, die die Souveränität des Vereinigten Königreichs in Nordirland befürworten und die irische Einheit ablehnen, akzeptieren die Vereinbarungen nicht. 

ARTE Magazin Mit welchen konkreten Folgen?

Duncan MorrowDie Politik bleibt polarisiert. Die Unionisten blockieren seit den Wahlen zur Nordirland-Regionalversammlung die Bildung einer Regierung. Es gibt Befürchtungen, dass es zu  neuer Gewalt kommen könnte. Bisher ist nichts passiert, aber wir wissen aus unserer Geschichte, dass es nur wenig braucht, damit diese Spannungen in Gewalt umschlagen. Aus unserer Geschichte wissen wir auch, dass Gewalt keine Lösung für die Probleme darstellt. Gegenwärtig lebt Nordirland zwischen diesen Realitäten – angespannt und gespalten, aber immer noch relativ friedlich. Es ist offen, wie sich die Dinge in Zukunft entwickeln werden.

ARTE Magazin Die Partei Sinn Féin, die als politischer Arm der IRA galt, tritt für eine geeinte Insel an. In Nordirland hat sie zuletzt zwei Wahlen gewonnen, in der Republik Irland führt sie in Umfragen. Stehen die Zeichen auf Vereinigung? 

Duncan MorrowEs liegen definitiv Veränderungen in der Luft. Die katholische Bevölkerung Nordirlands wächst und ist in den jüngeren Generationen stärker vertreten. Allerdings war die Religion bislang kein bestimmender Faktor bei Wahlen. Und es gibt noch immer keine Mehrheit für den Wandel. Generell zeigen seit dem Brexit mehr Katholiken Interesse an einem vereinigten Irland. Die Gewinne der Sinn Féin sind bedeutend, dabei jedoch eine zweischneidige Sache. Ihre hohen Zustimmungswerte in der Republik Irland lassen sich nur zu einem geringen Teil auf das Interesse an einer Vereinigung zurückführen. Es sieht eher danach aus, als werde es eine Protestwahl wegen der akuten Wohnungskrise geben. Die Erfolge ermöglichen es der Partei zwar, das Thema Nordirland stärker in die Öffentlichkeit zu rücken. Gleichzeitig könnte Sinn Féin aber in Nordirland selbst gemäßigte Wähler abschrecken und damit am Ende die Unterstützung für ein vereinigtes Irland sogar schmälern. 

 

Wandbilder in Belfast
Foto: Peter Bialobrzeski:laif aus der Serie “Belfast Diary”

ARTE Magazin Jenseits der Britischen Inseln scheint der schottische Drang zur Unabhängigkeit mehr Beachtung zu finden als die Frage eines vereinigten Irlands. Woran liegt das?  

Duncan MorrowNordirland ist ein kleiner Teil Europas. Viele Jahre lang gab es hier extreme Gewalt, die international Aufmerksamkeit erregt hat. Während der Brexit-Debatten war Nordirland das schwierigste Problem und stand erneut im Mittelpunkt. Unsere Probleme sind nicht verschwunden, aber weniger dringlich geworden. Der Rest der Welt hat gerade wesentlich größere Krisen zu bewältigen. Wir sind einfach nicht wichtig genug.

ARTE Magazin Und wie reagiert die britische Politik auf die Entwicklungen in Nordirland? 

Duncan MorrowDer vorherrschende Eindruck in Nordirland ist, dass es London an Interesse mangelt. In den Jahren des Konflikts haben sich die Briten mit ihrer Armee und finanzieller Unterstützung engagiert. Nordirland wurde jedoch stets als das Problem „anderer“ behandelt. Seit dem Karfreitagsabkommen hat sich dieser Eindruck noch verstärkt. In der Brexit-­Debatte haben die britischen Befürworter deutlich gezeigt: Vor die Wahl gestellt zwischen einer sehr „harten“ Grenze zu Europa und mehr Aufmerksamkeit für Nordirland, stand der EU-Austritt für sie stets an erster Stelle. Die Folgen sind schwerwiegend. Zwar haben sich die britisch-irischen Beziehungen zuletzt wieder verbessert, aber Nordirlands Politik bleibt blockiert. Und das Vereinigte Königreich scheint wenig gewillt, in dieser Angelegenheit zu handeln. Viele dort warten wohl auf einen Regierungswechsel in London.

Zur Person
Duncan Morrow, Politologe

Der Professor an der Ulster University in Belfast beschäftigt sich mit politischen Konflikten in Nordirland und Schottland. In seiner Heimat war er Berater im Friedensprozess, ganz konkret etwa zum Thema Freilassung von Gefangenen nach dem Karfreitagsabkommen.

Es war einmal in Nordirland

3-tlg. Dokureihe

Dienstag, 5.12.
— ab 20.15 Uhr

bis 3.3.24 in der Mediathek