Als ich anfing mit dem Aufhören, schienen meine Mitmenschen mehr Probleme zu haben als ich selbst. Sie stellten allerlei Fragen wie „Detoxt du etwa schon wieder?“ oder „Hast du ein Alkoholproblem?“. Anlass für ihre Besorgnis war ein kleines Detail in meiner Hand: ein Glas Wasser statt Wein. Nachdem ich meinen Selbstversuch, einfach mal auf Alkohol zu verzichten, ein paar Wochen erfolgreich und munter durchgezogen hatte, fragte mich bei einem Abendessen der Mann einer Freundin: „Aber sonst bist du schon noch allen sinnlichen Vergnügen zugetan?“ Das war der Moment, in dem ich wusste: Ich zettle gerade eine Rebellion an. Auch ahnte ich, dass es einen mysteriösen Zusammenhang geben muss zwischen Alkohol und Erotik. Mir schossen Bilder durch den Kopf von dieser schlimmen Bierreklame, in der ein Typ seiner französischen Liebhaberin ein Päckchen zukommen lässt. In dem Päckchen sind eine Flasche Weizenbier und ein Spitzen-BH (oder war es ein Höschen?), und diese laszive Frauenstimme sagt aus dem Off mit fürchterlich überzogenem französischem Akzent: „Eine Flasche von die Bier, die sooo schön att geprickelt in meine Bauchnabel.“ Keine Ahnung, wer sich beim Liebesspiel ein großes Hefeweizen in den Bauchnabel schüttet, als käme er gerade vom Squashen, um es total sinnlich abzulecken. Aber damals, als ich in der Küche stand mit dem Mann meiner Freundin, war ich ganz sicher, nie wieder Spaß haben zu werden. Von Sex ganz zu schweigen.
Wer bin ich – ohne einen Drink in der Hand?
Das Ding ist, dass man sich erstaunlicherweise verdächtig macht, wenn man aufhört zu trinken, wie es alle tun. Vorher, also, als ich noch tat, was alle tun – hier einen Champagner, dort zwei Gin Tonic, da einen Vino –, sorgte sich niemand um mich. Es gab auch keinen Anlass, wir saßen ja alle im selben schunkelnden Boot. Erst als ich ausstieg, freiwillig und ohne medizinische Notwendigkeit, wurde mein Umfeld sonderbar. Und unruhig. Äh, wie lange willst du das denn noch machen, jetzt für immer oder was? Damals wusste ich nicht, wie lange, ich wusste nur, dass ich herausfinden möchte, wie es sich anfühlt, immer voll da zu sein, immer präsent, immer glasklar, immer nur „high on my own supply“. 24 Stunden von 24 Stunden. Ich wollte erfahren, wer ich bin ohne einen Drink in der Hand, ohne Trostspender, Beschleuniger, Stimmungsaufheller, Aphrodisiakum. Ich wollte infrage stellen, was wir da eigentlich alle tun und warum wir es beinahe bewusstlos tun. Ob es wirklich stimmt, wie es oft behauptet wird, dass Alkohol nun mal zum Kulturgut gehört, er einfach nur gut schmeckt und man jederzeit aufhören könne, wenn man denn wolle. Ich konnte aufhören damit, aber ich habe gemerkt, dass emotionale Abhängigkeit nicht zu unterschätzen ist. Bei jedem Romy-Schneider-Film, den ich sah, bei jedem Fest, bei jedem ersten Date, bei jedem Stress, stellte mein Hirn eine Verbindung her, die sagte: Ohne Alkohol macht dein Leben nun keinen Sinn mehr.
Heute, dreieinhalb Jahre später ohne ihn, weiß ich, was mir das Nichttrinken vor allem gegeben hat: Ich bin mir selbst nähergekommen. Auf die Schliche gekommen, wer ich bin und in welchen Momenten ich das partout nicht aushalten wollte. Auch lernte ich, egal, wie die Umstände um mich herum sind, ohne Betäubung mit mir zu sein. Die unbequemen, lange verdrängten Gefühle einfach mal so stehen zu lassen, ohne sie in Ethanol ersaufen zu müssen. Und es fühlt sich nicht nur am Neujahrsmorgen fantastisch an, sondern jeden verdammten Tag meines Lebens. Noch nie hat man am Morgen bereut, am Abend zuvor nichts getrunken zu haben. Nur die Abende, die sind anfangs schwer, was weniger mit Abhängigkeit zu tun hat, sondern mit dem Sonderstatus, den man in der Gesellschaft einnimmt und einen zum Außenseiter macht. Doch das lässt nach, umso selbstbewusster man wird von Tag zu Tag, an dem man nicht trinkt. Eine Gesellschaft, die global trinkt, weil sie es nüchtern einfach nicht so gut aushält. Ich kann das verstehen, als ich es noch tat, erschien mir auch vieles als eine Zumutung ohne Rausch. Jeder hat ja auch ein Recht auf Rausch, und ich bin die Letzte, die auf Partys steht mit einem Tee in der Hand und ungefragt darüber doziert, wie schädlich das Trinken sei. Auch wenn Alkohol die einzige Droge ist, bei der man sich rechtfertigen muss, wenn man sie nicht konsumiert, sollte man cool bleiben. Das Nichttrinken wird nach der Umstellung zu einem Schatz, den es zu bewahren gilt. Das kann man durchaus leise tun. Regel Nummer eins, wenn man aussteigt aus dem Sprit-Zirkus: Auf keinen Fall ein Fass aufmachen! Niemand, der gerade an einem Glas Grauburgunder nippt, möchte einen Gesundheitsvortrag hören. Es ist eine sehr persönliche Entscheidung, die man trifft, die lange in einem gärt. Das Beste, was man als Abstinenzler tun kann: lächeln! Sich weder erklären noch rechtfertigen noch rechthaberisch sein. Wir wissen alle, dass Alkohol nicht gut ist. Wir wissen das, und deshalb beschützen wir ihn bis aufs Blut, weil wir Angst haben, dass er uns genommen wird. Dass uns genommen wird, was wir seit unserer Jugend als unseren Verbündeten ansehen. Aber die Wahrheit ist: Er ist kein guter Freund. Er tut nur so.