Gezüchtete Tiere aus Ställen statt Wild auf dem Feuer und ein richtiges Dach über dem Kopf: Die Jungsteinzeit markiert in Europa und anderen Teilen der Welt den Übergang der Jäger- und Sammlerkulturen zu Hirten- und Bauernkulturen. Lange dachte man, dass sich die Menschen zu dieser Zeit höchstens in Siedlungen mit wenigen Hundert Bewohnern zusammenfanden. Neue Forschungsergebnisse aus der Archäologie stellen diese Annahme jedoch auf den Kopf: Bereits vor mehr als 6.000 Jahren sollen die sogenannten Trypillia-Gesellschaften im heutigen Osteuropa urbane Strukturen erschaffen haben, sogenannte Mega-Sites. Sie gelten nun als die ältesten bekannten Großstädte. Bis zu 15.000 Einwohner lebten dort ab 4000 v. Chr. über mehrere Generationen hinweg zusammen. Anders als bisher vermutet, wucherten die ersten Großsiedlungen, in denen teils mehr als 2.000 ein- oder zweistöckige Gebäude auf bis zu drei Quadratkilometern Fläche standen, nicht unkontrolliert, sondern wurden offenbar bewusst geplant. Mit Ansätzen, die laut einem internationalen Forschungsteam mit Beteiligung der Kieler Universität sogar für die Metropolen der Gegenwart Inspiration bieten könnten.
Die für die Jungsteinzeit riesigen Siedlungen befanden sich zwischen der westlichen Schwarzmeerküste und der heutigen Zentralukraine. Sie unterschieden sich maßgeblich in Größe und Struktur von den bekannten, noch viel älteren Siedlungen wie Matera in Süditalien (ab 9000 v. Chr.) oder Jericho im Westjordanland (ab 8000 v. Chr). Wie Ausgrabungen belegen, wurden die Mega-Sites ringförmig um einen zentralen Platz angelegt – mit sehr geräumigen Versammlungshallen an zentralen Zugangsstraßen sowie kleineren Versammlungsgebäuden in den einzelnen Vierteln. Die eigentliche Besiedlung der Stadt habe laut den Forschenden erst nach der Errichtung der Gebäude begonnen. „Die Mega-Sites waren ein Melting Pot. Sie lockten Menschen aus dem Balkan und Südosteuropa an“, sagt der Archäologe Johannes Müller von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Wir gehen davon aus, dass die neue soziale Ordnung der Ansporn war, in diese Orte zu ziehen.“ Zur Überraschung der Archäologen zeigen Funde, dass die Großsiedlungen zum Teil egalitär organisiert waren. So lassen sich in den proto-urbanen Trypillia-Gesellschaften über lange Zeit keine Hinweise auf Hierarchien oder soziale Unterschiede nachweisen. Stattdessen gehen Forschende davon aus, dass die integrative Architektur der Städte mit ihren öffentlichen Versammlungshäusern eine Art demokratische Mitbestimmung bei kollektiven Entscheidungen ermöglichte. „Komplexer muss nicht gleich hierarchischer bedeuten. Das ist die Botschaft von Trypillia: Es ist immer möglich, innovativ zu sein und gleichberechtigt zusammenzuleben. Das kann uns eigentlich für unsere Gegenwart Hoffnung machen“, sagt Müller mit Blick auf heutige Metropolen, in denen die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer dramatischer werden. Dank Mechanismen des sozialen Ausgleichs und der partizipativen Architektur sei es den jungsteinzeitlichen Menschen sogar gelungen, eine planvolle Wirtschaftsweise und ein ausgeklügeltes Düngesystem zu entwickeln.
Warum aber verschwanden die Mega-Sites bereits um 3500 v. Chr., also rund 500 Jahre nach ihrer Errichtung, wieder? Da ökonomische Gründe ausgeschlossen werden konnten, vermuten die Forschenden soziale Ursachen. Sie stellten fest, dass die kleineren Versammlungshäuser im Laufe der Zeit aufgegeben wurden. Die Entscheidungen wurden fortan, so die Annahme, zunehmend von Eliten getroffen. Funde beweisen, dass damit die Unterschiede in den Hausgrößen zunahmen und Gräber erstmals sozial gekennzeichnet wurden. „Die Ungleichheiten führten zu innergesellschaftlichen Konflikten und damit zu gesellschaftlicher Unproduktivität und dem Zusammenbruch der Mega-Sites“, sagt Müller. Laut dem Archäologen wäre die Verbreitung einer Schrift notwendig gewesen, um in den großen Gruppen eindeutig kommunizieren zu können. So weit waren die Trypillia-Gesellschaften jedoch noch nicht. Deshalb gaben sie ihre Großstädte wohl wieder auf – für ein Leben in kleineren Siedlungen.
Komplexität führt nicht notwendigerweise zu Ungleichheit