Die „Lohengrin“-Premiere am Londoner Royal Opera House war ein rauschender Erfolg, nun genießt Primadonna Nellie Melba den zweiten großen Auftritt des Abends beim Dîner im Hotel Savoy. Küchenchef Auguste Escoffier huldigt der Diva mit einem eigens für sie kreierten Dessert: In Vanillesirup pochierter Pfirsich, über-
zogen mit einem Schleier aus Himbeermark, gebettet auf Vanilleeis und serviert in einem aus einem Eisblock geschnitzten Schwan – eine Anspielung an die Pose des mythischen Schwans aus dem ersten Akt der Wagner-Oper, in der sie soeben brillierte. Die „Pêches Melba“ schmeicheln im Jahr 1892 nicht nur der umjubelten Sopranistin, sie bleiben bis heute die wohl berühmteste Kreation eines der größten Kochkünstlers aller Zeiten.
Neue Abläufe, ikonische Gerichte
Doch das Vermächtnis dessen, was wir Auguste Escoffier (1846–1935) als frühem Mastermind der Haute Cuisine verdanken, reicht weit über seine ikonischen Gerichte hinaus. Mit seinem „Guide Culinaire“ und dem Kochbuch „Ma Cuisine“ schuf er die Grundlagen für die Kochkunst des 20. Jahrhunderts. Auch sein Wirken hinter den Kulissen setzte Maßstäbe. Er verschlankte Gerichte und Menüfolgen, vereinfachte allzu aufwendige Anrichteweisen und führte eine ganz neue Organisationsstruktur in der Küche ein, die bis heute die Arbeitsabläufe in Restaurants weltweit prägt. Eine Küchenbrigade besteht aus zahlreichen Einzelposten, die auf das Kommando des Chefs de Cuisine und seines Stellvertreters hören. Die Rolle als „Chef des Chefs“ übernahm Escoffier in den 1890er Jahren und füllte sie für die nächsten 30 Jahre aus. Erst 1920, im Alter von 74 Jahren, gab er die aktive Arbeit in der Küche schließlich auf und setzte sich mit seiner Frau in Monte Carlo zur Ruhe.
Ganz in der Nähe, in Villeneuve-Loubet bei Nizza, war Auguste Escoffier 1846 zur Welt gekommen, und in Monte Carlo lernte er 1884 den Mann kennen, der sein Leben veränderte – den Hotelier César Ritz. Ihm folgte er nach London, sein Lebensmittelpunkt für die nächsten 30 Jahre, ins damals neu eröffnete Hotel Savoy, bald das erste Haus der britischen Hauptstadt. Hier und später im Pariser Ritz wie auch im 1899 eröffneten Londoner Carlton kreierte er Gerichte wie „Seezunge Coquelin“ (mit Weißweinsauce und Kartoffeln), „Suprêmes de volailles Jeannette“ (Hühnerbrust und Gänseleber in Aspik) oder „Hummer à l’américaine“ (in einem kräftigen, aus den Köpfen gewonnenen Sud mit Tomaten, Schalotten und Cognac). Sie begründeten seine Vision der Haute Cuisine, geprägt von besten Grundprodukten, aromatischer Raffinesse und tiefgründigen Saucen. So schuf Escoffier eine Art Kanon der Haute Cuisine, der bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Gültigkeit hatte.
Doch Anfang der 1970er war es Zeit für eine Palastrevolution. „Escoffier, c’est fini“, tönte ein gewisser Paul Bocuse, und die einflussreichen Restaurantkritiker Henri Gault und Christian Millau prägten den Begriff der „Nouvelle Cuisine“. Sie formulierten auch deren Grundsätze: kürzere Garzeiten, frischeste Produkte vom nächstgelegenen Markt, fettarme Saucen, wenig Zucker und Salz, dafür ein Höchstmaß an Kreativität. Eine leichte, naturnahe, ausgewogene Küche, zu deren wichtigsten Vertretern sie Michel Guérard, Roger Vergé und die Brüder Troisgros zählten. Escoffier wurde zum Repräsentanten einer überholten Küche abgestempelt – doch es sollte sich zeigen, dass sein Ruhm von größerer Dauer war als der vieler Nouvelle-Cuisine-Adepten, die sich irgendwann in minimalistischen Tellerspielereien verkünstelten und auf der Bühne der Küchengeschichte abgelöst wurden.
In den 1980ern besannen sich engagierte Köche auf ihre eigenen Wurzeln und prägten eine Regionalküche moderner Art, indem sie die kulinarischen Schätze der französischen Regionen in den Mittelpunkt stellten, Genüsse und Produkte ihrer Kindheit neu interpretierten. Alain Ducasse gebührt das Verdienst, die leichte und aromenreiche Mittelmeerküche des französischen Südens für die Haute Cuisine adaptiert zu haben, eine Stilistik, die sicher auch Escoffier, der ja von der Côte d’Azur stammte, gemundet hätte. Ducasse trat auch organisatorisch in die großen Fußstapfen des Belle-Epoque-Kochs, der zu seiner Zeit von London über Paris bis Monte Carlo stilprägend war, ohne selbst überall vor Ort zu sein. Auch Ducasse schwor seine Mitarbeiter so erfolgreich auf die leichte, gemüsebetonte mediterrane Kost ein, dass sie heute in 24 Restaurants weltweit mühelos seine Stilistik weiterführen. Seinen Schülern erklärt er, sie brauchten sich über bahnbrechende neue Gerichte gar keine Gedanken zu machen: „Steht alles schon bei Escoffier.“
Doch dann, um die Jahrtausendwende, geschah das Undenkbare: Die große Haute Cuisine Française geriet, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, bedenklich ins Hintertreffen. Mit der Globalisierung kamen Einflüsse aus Asien, aber auch aus Kalifornien und Südamerika in Europas Küchen, die Medien präsentierten immer neue „Food Heroes“, Köche aus Nationen ohne gastronomische Tradition setzten plötzlich die Trends, allen voran ein Spanier und ein Däne. In Scharen pilgerten die Gastro-Kritiker in Ferran Adriàs Restaurant El Bulli in der Nähe von Barcelona: Mit flüssig im Reagenzglas servierten Steinpilzen oder grün-weißen Eislollis aus Spargel und Trüffel verblüffte der Katalane seine Gäste. Adriàs sogenannte Molekularküche, die als Riesentrend um die Welt ging und deren Kreationen allzu oft auf dem großzügigen Einsatz von Lebensmittelchemie basierten, ist heute passé. Seine wahre Leistung ist eine andere: Zum ersten Mal wagte ein europäischer Spitzenkoch die radikale Abkehr vom Vorbild der französischen Haute Cuisine und deren Aromenfolge im Menü. Und hatte damit einen Riesenerfolg.
„New Localism“ aus Skandinavien
Doch jeder Trend erzeugt einen Gegentrend. Der ex-tremen Verfremdung von Lebensmitteln folgte eine Küche, die mit der Betonung des heimischen Terroirs und seiner Produkte der Natursehnsucht unserer Hightech-Gesellschaft entsprach. Kein anderes Restaurant weltweit steht so sehr für diesen „New Localism“ wie das 2004 eröffnete Kopenhagener Noma. Hier gibt es kein Produkt, das nicht skandinavischer Herkunft ist. Kein Olivenöl, keine Foie gras. Stattdessen verarbeitet Küchenchef René Redzepi Tiefseekrabben von den Färöer-Inseln, traditionelle isländische Dickmilch namens Skyr oder Moschusochse aus Grönland. Er experimentiert mit Buttermilch oder Molke als Basis für Saucen; wo in der klassischen französischen Küche Fonds mit Wein aromatisiert werden, benutzt er Bier und Ale, Fruchtsäfte und Fruchtessig aus eigener Produktion. Die Wiederentdeckung der eigenen kulinarischen Wurzeln wurde zur weltweiten Bewegung, die Köche von Lima über Melbourne bis Hongkong erfasste. Auch in Deutschland ist „Nova Regio“, eine extreme Form der Regionalküche, der Mega-Trend der vergangenen Jahre.
Schaut man sich heute unsere globalisierte Restaurantlandschaft an, so sind die unmittelbaren Einflüsse von Auguste Escoffier vielleicht nicht mehr auf den ersten Blick zu erkennen. Doch kulinarische Trends und das, was Medien darüber berichten, sind eine Sache – die Realität in den Restaurants ist oft eine andere. Bei den Gästen in aller Welt erfreut sich klassisch französisch geprägte Küche ungebrochener Beliebtheit. Große Meister wie Alain Ducasse oder Yannick Alléno betreiben erfolgreich Dépendancen ihrer berühmten Häuser in vielen Ländern. Die Franzosen setzen weiterhin auf exzellentes Handwerk und den Wert erstklassiger Produkte, das wird wohl nie gänzlich aus der Mode kommen. Und auch wenn sie derzeit nicht die mediale Beachtung erfährt wie früher – die Haute Cuisine kennt keinen Stillstand, auch hier existiert eine junge Generation engagierter Köche, die sich weltweit orientieren.
Yannick Alléno, einer der besten Köche Frankreichs, sieht die Situation pariserisch selbstbewusst: „Wir Franzosen sind Skandinaviern und Südamerikanern um Jahrhunderte voraus, was die Küchenleistung angeht. In Dänemark sammeln sie Moose und Beeren in den Wäldern, wecken Rüben in Einmachgläser ein, feiern die uralte Technik der Fermentation.“ Viel mehr interessiert sich der Spitzenkoch für die fernöstlichen Küchen mit ihren jahrtausendealten Traditionen.
Diese Offenheit für Neues, gepaart mit der Basis exzellenten Handwerks steht in direkter Tradition Escoffiers. Bestes Beispiel ist die große französische Saucenkunst. Sie geriet als Herzstück der Grande Cuisine „aus dem Fokus“, sagt Alléno, „weil sie als zu aufwendig in der Zubereitung, zu schwer, zu fettig, wenig ästhetisch auf dem Teller galt.“ In seinem Pavillon Ledoyen an den Champs-Elysées gibt es heute nur noch ultraleichte Jus, deren geballte Aromatik er mithilfe ausgeklügelter Küchentechnologie aus Gemüse, Fisch oder Fleisch gewinnt. Seine „Mayonnaise moderne“, ganz ohne Ei auf Basis von Dulce-Algen zu seidiger Perfektion geschlagen und zu marinierten Sardinen und roh zitronisierter Rotbarbe auf Olivenöleis serviert, macht schlichtweg süchtig. So wandelt er küchenhistorischen Ballast in spannende Impulse für eine zeitgemäße Haute Cuisine. Mit Saucen wie seinen steht der Wiederauferstehung der französischen Küche als Leitmedium des 21. Jahrhunderts nichts mehr im Wege. Escoffier hätte seine helle Freude daran.
»EIN HARTER SCHLAG«
Von Jenny Hoch
Geschlossene Restaurants, strenge Auflagen – die Corona-Krise trifft die Gastronomie ins Mark. Gourmet-Expertin Patricia Bröhm über die Folgen.
ARTE MAGAZIN Wie ist die Stimmung unter Deutschlands Köchinnen und Köchen?
Patricia Bröhm Man muss klar sagen, viele kämpfen um ihre Existenz. Laut Branchen-Umfragen ist ein gutes Drittel der Gastronomen von der Pleite bedroht, ein harter Schlag. Das Virus wirkt demokratisch – es macht keinen Unterschied zwischen der Kneipe um die Ecke und der Haute Cuisine.
ARTE MAGAZIN Haben teure Sternerestaurants denn keine finanziellen Rücklagen?
Patricia Bröhm Die Gewinnmargen sind sehr gering, das gilt gerade für die Spitze. Sie können die Kosten für die edlen Zutaten – den sogenannten Wareneinsatz – nicht eins zu eins an die Gäste weitergeben. Nehmen Sie bretonischen Steinbutt, der kostet schon im Einkauf 50 Euro pro Kilo.
ARTE MAGAZIN Welche Folgen zeichnen sich ab?
Patricia Bröhm Die Krise wird ziemlich sicher zu einer Insolvenzwelle führen, wie wir sie noch nicht gekannt haben. Das ist unendlich traurig, denn in Deutschland hat sich die gehobene Gastronomie in den vergangenen Jahren grandios entwickelt. Wir sind längst auf Augenhöhe mit der internationalen Spitzenküche.
ARTE MAGAZIN Hat die Situation auch positive Seiten?
Patricia Bröhm In der Branche gibt es viel Kreativität, das zeigt sich jetzt. Neue Gerichte werden entwickelt, Restaurants renoviert. Viele Köche machen sich außerdem Gedanken über den bewussteren Umgang mit unserer Nahrung. Trotzdem ist die finanzielle Belastung enorm. Umso wichtiger, dass die Politik reagiert. Die Mehrwertsteuersenkung war ein guter Anfang.
ARTE MAGAZIN Was hilft noch?
Patricia Bröhm Damit Restaurants rentabel wirtschaften können, werden auch wir Gäste in Zukunft unseren Anteil leisten müssen – indem wir zum Beispiel akzeptieren, dass Tische pro Abend in zwei Schichten vergeben werden. In anderen Ländern ist das längst üblich.