Jeder berühmte Künstler des 20. Jahrhunderts hat ein Markenzeichen. Warhol hat die Suppendose, Mondrian das Raster, Yves Klein das Blau. Nur Pablo Picasso braucht kein Markenzeichen – er ist selbst eins. Als einziger Künstler des 20. Jahrhunderts ist er zum Synonym für moderne Kunst als solche geworden. Seine kubistischen Gemälde oder die Friedenstaube erkennt jeder sofort. Und auch den Mann selbst: braun gebrannter, fast kahler Schädel, das ewige Matrosen-Shirt, die dunkelbraunen, forschenden Augen. Gern trat Picasso auch noch im Alter oben ohne in Erscheinung, als 1,63 Meter messender Titan.
Als der Spanier vor 50 Jahren starb, hinterließ er sagenhafte 50.000 Kunstwerke. Zu seinem Todestag am 8. April ist ein monumentales internationales Programm aus mehr als 40 Ausstellungen geplant – unter anderem im Prado in Madrid, im Centre Pompidou in Paris und im Metropolitan Museum of Art in New York. Auch neue Bücher erscheinen, wie das von Rose-Maria Gropp, Kunstkritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Picasso“, schreibt sie in „Göttinnen und Fußabstreifer“, „war der Maler der Frauen, lebenslang. Als ein Zentralgestirn schien er über sie zu herrschen, als Künstler und Mann, in einem Begehren, das durch sie hindurchgeht und über sie hinwegflottiert. Er hat Frauen gemalt, er hat sie gefeiert und zertrümmert, bis zum Erlöschen seiner Schöpferkraft in Todesnähe. Wir sehen die Frauen im Spiegel und Zerrspiegel seiner unermüdlichen Produktivität.“ Das klingt, vorsichtig gesagt, schwierig. Seine Partnerinnen abwechselnd feiern und zertrümmern erscheint aus der Perspektive des Jahres 2023 wie lupenrein toxisches Verhalten. Und tatsächlich, in den Berichten seiner Frauen, Geliebten und Nachkommen begegnet einem nicht nur ein faszinierender Künstler, sondern auch ein emotional manipulativer, triebgesteuerter Patriarch, der Affäre an Affäre reiht, mit fast 80 Jahren eine 45 Jahre jüngere Frau heiratet und sich mit dem Minotaurus identifiziert, dem Stiermenschen aus der griechischen Mythologie, der alle neun Jahre mit Menschenopfern bei Laune gehalten werden muss.
Als Künstler sind wir wie die Figuren in Picassos Bildern: Clowns und Entertainer
Was fängt man heute mit so jemandem an? Künstler und Werk zu trennen, ist mittlerweile kaum mehr möglich. Die Museen, so scheint es, stellen sich den Debatten. So versucht das Musée Picasso in Paris den Spanier neu zu hinterfragen, stellt ihm zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler aus Europa und Afrika zur Seite und thematisiert, was schon seit Jahren für Diskussionen sorgt: dass Picasso sich bei afrikanischer Kunst bediente, die er selbst sammelte. Ist die Moderne etwa Diebstahl? Hätte es Pablo Picassos Errungenschaften ohne Kolonialismus überhaupt geben können? Fest steht, er war ein Kind seiner Zeit.
Im Jahr 1900 erstmals nach Paris gekommen, bewegt Pablo Ruiz Picasso sich in der Bohème und ist bald befreundet mit den Surrealisten und anderen maßgeblichen Protagonisten der Epoche. Er durchlebt eine rosa und eine blaue Periode und begründet den Kubismus mit. Der Regelbrecher revolutioniert die Plastik nicht zuletzt, indem er auf außereuropäische Kunst zurückgreift, arbeitet sich aber später ebensogern an den Großen der Kunstgeschichte ab – beispielsweise an Diego Vélazquez oder Edouard Manet. Das ewige Recycling der Vergangenheit, für das die Gegenwart berüchtigt ist, hat Picasso lange vorweggenommen. Und die Vitalität des Alters erst recht.
Picassos Spätwerk, das die Fondation Beyeler in diesem Frühjahr zeigt, ist beispiellos in seinem Umfang und seiner existenziellen Getriebenheit. „Ich habe immer mehr zu sagen und immer weniger Zeit“, lautet eines der vielen ihm zugeschriebenen Zitate. Die schiere Zahl der Bilder belegt es – und die Stierkämpfer, die man darauf sieht, liegen jetzt am Boden. In seinen letzten Jahren wirkt der maskuline Titan fragil. Das klingt widersprüchlich. Aber wer Widersprüche produziert, erzeugt eben auch Konflikte. Konflikte erzeugen Energie. Und die braucht man wohl, um 50.000 Kunstwerke zu schaffen. Noch ein picassöser Widerspruch: die enorme Produktivität und die vielen Bilder eines lässigen, sonnengebräunten Mannes in Leinenhosen. Angestrengt sieht man den Medienstar Picasso auf den vielen Fotos nie. Hoch ist der Preis vor allem für diejenigen, die sich um diesen malenden Vulkan herum aufhalten. „Picasso ist ein Verschlinger“, urteilt die Galeristin und Biografin Sophie Chauveau, „genau wie der Minotaurus. Er hat sich die Figur nicht zufällig angeeignet. Er will alles beherrschen, alles fressen.“
Die Wurzeln für den Maskulinitätswahn des Künstlers vermutet Chauveau in dessen Kindheit. Picasso ist der Sohn eines Tiermalers und verbringt seine ersten zehn Lebensjahre in Malaga in Südspanien. Am Weihnachtstag 1884 muss er mit seiner hochschwangeren Mutter vor einem schweren Erdbeben aus der andalusischen Stadt fliehen. Unterwegs kommt seine Schwester zur Welt. In diese Zeit fallen auch die ersten Besuche der Stierkampfarena – was heute selbst Erwachsene verstört, wird für den kleinen Picasso zur Belohnung am Wochenende.
Existenz als Kampf. Nur wer sich behauptet, überlebt. Das ist die früheste Lektion für Picasso. Mit acht Jahren malt er einen Picador, also den Mann zu Pferd, der als Erster in Kontakt mit dem Stier kommt. Die Grausamkeit des Lebens, aber auch die Lust an seinen Herausforderungen bündelt sich in der Corrida, die in Spanien damals extrem populär ist und die Picasso zeitlebens fasziniert. Es ist ein ungerechter Kampf, der vom Künstler später kubistisch übersetzt und mythologisch interpretiert wird. Hat Picasso diesen Kampf so verinnerlicht, dass er ihn zeitlebens auf sein Privatleben übertrug? Er inszeniert sich als lüsterner Minotaurus, aber der Stier kann den Stierkampf ja nur selten gewinnen. Es ist nicht das einzige Paradox. Da ist der Pariser Bohèmien, der seine Frau jahrelang mit einem Teenagermädchen betrügt; und da ist der Unterstützer der spanischen Republik, der 1944 in die Kommunistische Partei eintritt und mit der Friedenstaube 1949 ein unsterbliches pazifistisches Symbol entwirft.
Picasso hatte Eier, Aber die haben wir Künstlerinnen auch
EIN ANTIFASCHIST IM KAMPF FÜR DIE DEMOKRATIE
Picasso ist ein Künstler, der der Freiheit huldigt und dem Massenmörder Josef Stalin Geburtstagsgrüße in die Zeitung malt. Sein Zertrümmern der Form ist eigentlich das Gegenteil von dem, was sich die UdSSR unter Kunst für die Werktätigen vorstellte. Doch da -Picasso bekennender Kommunist und außerdem ein Weltstar ist, setzt er sich auch jenseits des Eisernen Vorhangs immer mehr durch. In der Nachkriegszeit gelangt er auf den Höhepunkt seines Ruhms, der inzwischen die ganze Welt umspannt. Nun hat man es endgültig mit einem globalen und zugleich mit einem „geteilten Picasso“ zu tun, wie eine Kölner Ausstellung 2021 titelte. Picasso ist im Kalten Krieg der moderne Künstler, auf den sich Ost und West einigen können. Im Westen steht sein künstlerisches Genie im Vordergrund, im Osten gilt er als Friedenskämpfer und Mann des Volkes – der allerdings bevorzugt in Adelsvillen in Südfrankreich lebt.
Jede Zeit, jedes Publikum legt sich seinen eigenen Picasso zurecht. Das ist faszinierend und abgründig, je nachdem. Die biografischen Erinnerungen seiner Weggefährten und Familienmitglieder füllen Regale, und die Frage, wie toxisch Picasso nun wirklich war und wie kritiklos ihm über die Jahrzehnte gehuldigt wurde, wird man sich 2023 noch einmal neu stellen müssen.
Picasso verkörpert den Traum jedes Künstlers, weil sein Schaffen völlig frei war
Aber da ist noch etwas anderes, weshalb Picasso 2023 von Interesse ist: Er hat den Spanischen Bürgerkrieg und den Zweiten Weltkrieg erlebt. Im Kampf Francos und der von ihm angeführten Faschisten gegen die Spanische Republik ergriff er wirksam Partei für die Demokratie. Der Spanische Bürgerkrieg, heute ein wenig in Vergessenheit geraten, war das Medienereignis der 1930er und kündigte den Weltkrieg an. Er produzierte dank der vielen freiwilligen Teilnehmer aus aller Herren Länder massenhaft Bilder und Augenzeugenberichte. Und doch ist es ein Gemälde, das am Ende davon bleibt: Picassos „Guernica“, entstanden 1937. Gemalt für den spanischen Pavillon bei der Weltausstellung 1937 reist es um die Welt. Überall erregt „Guernica“ die Gemüter, aber nicht alle sind zufrieden, denn das Bild zeigt keine Helden. Die Opfer des Bombardements eines baskischen Dorfes sind wehrlos, ihre Gesichter verzerrt. Von den deutschen Bombern, die den Ort auf Francos Einladung hin vernichteten, ist nichts zu sehen. Stattdessen schreiende Menschen, eine Frau mit Kind, ein sterbendes Pferd und ein Stier.
Der Stier, erklärt Picasso nach der Befreiung 1945 einem amerikanischen Journalisten in Paris, soll für die Gewalt und die Dunkelheit stehen. Ausgerechnet das Tier, mit dem er sich identifiziert und dem er wieder und wieder gehuldigt hat. Erneut ist da diese für Picasso typische Ambivalenz, die das Dunkle und das Helle nicht eindeutig trennt, sondern kubistisch ineinander verschraubt. Der Raum, in den wir bei „Guernica“ blicken, ist geschlossen und offen zugleich – mit einer Glühbirne in der Mitte könnte es ein Zuhause sein.
Picasso hat sich stets neu erfunden, von der Malerei bis zur Skulptur. Er wollte sein Publikum überraschen. Für mich ist er ein Künstler, der sich weigerte, einer zu sein
DAS NEBENEINANDER VON ALLTAG UND ALPTRAUM
„Guernica“ wurde seit seiner Entstehung oftmals zitiert, wenn Kriege gegen die Zivilbevölkerung geführt wurden. Heute kommen einem die Fotos in den Sinn, die von Bomben aufgerissene Wohnungen in der Ukraine zeigen. Wo eben noch jemand gegessen oder mit Puppen gespielt hat, fehlen die Außenwände, flattern Bettlaken und Tischdecken im Wind. Das Nebeneinander von Alltag und Alptraum, die dünne Linie, die Zivilisation und Barbarei trennt, ist selten so wirkungsvoll nachgezeichnet worden wie bei Picasso – der nach seinen wenigen Kriegsbildern dann aber wieder zum Alltag und zum Leben zurückkehrte.
Zur Affäre von Maler und Modell, zum Verhältnis von Realität und Traum, zur Erotik und zur Todesfurcht – das alles sind Themen, die nicht unbedingt jeden Tag in Zeitungen und Online-Nachrichten verhandelt werden, die deshalb aber auch nicht irrelevant geworden sind. Genauso wenig wie Pablo Picasso.
Künstlergedanken
Zum 50. Todestag von Pablo Picasso hat die Produktionsfirma Kobalt im Auftrag von ARTE Kunstschaffende befragt, was ihnen spontan einfällt, wenn sie an den Maler denken. Alle Zitate unter arte.tv/picasso
Mit jedem Pinselstrich, mit jeder Geste wollte er uns sagen: Ihr könnt über euch hinauswachsen