Gerade erst ist der Geschützlärm in der Spandauer Innenstadt verstummt; der Pulverqualm löst sich in der Frühlingsluft allmählich auf. Jörg Sonnabend, elf Jahre alt, trottet, wie befohlen, einem Rotarmisten hinterher. Auf dem Rücken: ein Rucksack mit Verpflegung für sowjetische Soldaten, die am Weinmeisterhornweg in ihren Stellungen liegen.
„Auf dem Weg überquerten wir ein Schlachtfeld“, erinnert sich Sonnabend im Gespräch mit dem ARTE Magazin an die Geschehnisse vom 29. April 1945. „Kurz zuvor flogen dort noch Kugeln und Granaten durch die Luft. Rechts und links lagen Dutzende, vielleicht Hunderte toter Soldaten. Einige Russen, viele Deutsche. Meist ältere Männer vom Volkssturm. Ein Gemetzel.“
Weiter östlich, im Zentrum Berlins, geht das Töten derweil unvermindert weiter. Erst am 2. Mai 1945 kapitulieren die Verteidiger. Bis dahin verlieren Schätzungen zufolge mehr als 170.000 Soldaten in der Schlacht ihr Leben; 500.000 werden verwundet. Zigtausende Zivilisten sterben.
Begonnen hat der Sturm auf die Hauptstadt am 16. April: Aus Brückenköpfen an der Oder greifen 2,5 Millionen sowjetische Soldaten mit 6.250 Panzern, 7.500 Flugzeugen und 41.600 Geschützen an. Ihnen stehen 800.000 deutsche Soldaten gegenüber – einige SS-Verbände, aber zumeist geschwächte Wehrmachts- und Volkssturmtruppen. Sie können den Angriff nicht aufhalten. Das letzte Kapitel des NS-Staats nähert sich dem Ende.
16. April 1945: Viele überzeugte Nazis glauben noch an den „Endsieg“, während das zivile Leben zum Erliegen kommt. „Infolge des Bomben-angriffs der Amerikaner vom 28. März und wegen der täglich auftauchenden russischen Tiefflieger mussten wir seit Anfang April nicht mehr in die Schule gehen“, erzählt Sonnabend. „Einige ältere Mitschüler wurden direkt zum Volkssturm eingezogen – wer sich dem Dienst entzog, dem drohte die Exekution.“
20. April: Im Garten der Neuen Reichskanzlei empfängt Adolf Hitler rund ein Dutzend Hitlerjungen und verleiht ihnen das Eiserne Kreuz. Es ist der letzte öffentliche Auftritt des Diktators. Zehn Tage später begehen er und seine Ehefrau Eva Braun Selbstmord. „Von Hitlers Suizid haben wir nur gerüchteweise erfahren“, so Sonnabend. „Im Radio wurde die Lüge verbreitet, er sei im heldenhaften Kampf gefallen. Das glaubte zwar keiner, aber etwas anderes trauten wir uns nicht öffentlich zu sagen. Es liefen viele SS-Leute durch die Straßen, die sogenannte Wehrkraftzersetzer, die sich absetzen oder die Waffen niederlegen wollten, auf der Stelle erschossen. Aus Verzweiflung und aus Angst vor der Rache der Sieger begingen damals auch viele Menschen Selbstmord oder tauchten unter. Mein bester Freund Horst und dessen Familie verschwanden spurlos. Ich habe sie nie wiedergesehen.“
23. April: Die Frontzeitung Der Panzerbär, die vom 22. bis 29. April in Berlin erscheint, fordert die Soldaten auf, „mit allen Kräften“ ihre Stellungen zu halten. „Hunderte Kämpfer setzten sich dennoch aus dem Stadtzentrum ab und landeten auf ihrer Flucht in Spandau“, sagt Sonnabend. „Wir Kinder waren enttäuscht, als wir sie sahen. Unsere Soldaten waren Idole – so hatten wir es doch in der Schule gelernt! Auf einmal standen wir ohne Helden da. Und alles, was mit der Nazizeit zu tun hatte, mussten wir verdrängen, um weiterleben zu können.“
25. April: Der Belagerungsring um Berlin ist geschlossen. Die Versorgung mit Lebensmitteln bricht zusammen, da die Depots in den Außenbezirken liegen, die von den Sowjets kontrolliert werden. „Wir hatten großes Glück, denn an der nahe gelegenen Lanke-Werft ankerte ein verlassenes Versorgungsschiff der Wehrmacht. Es war randvoll beladen mit Konserven, Pökelfleisch, Schokolade, Marmelade und mehr. Die gesamte Siedlung bediente sich dort. Plündern war zwar illegal, aber darum scherte sich niemand. Die russischen Soldaten, die Spandau zwei Tage später einnahmen, schauten entweder weg – oder sie zwangen Frauen, die sie in der Nähe des Schiffes mit Lebensmitteln erwischt hatten, ihnen aus der erbeuteten Ware etwas zu kochen.“
28. April: „Die vergangenen Tage hatten wir in einem provisorischen Bunker in der Haveldüne verbracht und auf das Ende der Kämpfe gewartet. Am Morgen hielt ein russischer Panzer vor dem Bunkereingang. Ein betrunkener Rot-armist kam wild um sich schießend hinein. Ich lag in einer Hängematte unter der Bunkerdecke. Rechts und links von mir flogen die Kugeln vorbei. Kurz darauf tauchte ein Offizier auf und beendete den Wahnsinn. Schließlich durften wir hinaus. Auf der Straße herrschte geschäftiges Treiben: Die Sowjets suchten nach Quartieren; auch unsere Wohnung wurde requiriert. Wir zogen in eine Laubenkolonie um, in der meine Großeltern lebten. Sie hatten bei einem Bombenangriff Ende 1944 ihr Zuhause in Kreuzberg verloren.“
30. April: „Solange wir in der Laube hausten, musste ich jeden Tag die Lage peilen, ob unsere Wohnung noch besetzt war. Anfang Mai hatten sich die Soldaten verzogen, aber zwei Russinnen, vermutlich ehemalige Zwangsarbeiterinnen, wohnten nun dort. Ein paar Tage später mussten sie gehen, weil sich meine Mutter bei der Kommandantur beschwert hatte.“
2. Mai: Der Berliner Kampfkommandant, General Helmuth Weidling, unterzeichnet in einem sowjetischen Gefechtsstand die Kapitulationsurkunde. Ab 15 Uhr herrscht Waffenruhe in der Stadt. „Das war das Startsignal für uns: Wir konnten ins Freie. Meine Freunde und ich suchten nach Orten, an denen wir spielen konnten, machten aus Panzerwracks und Straßensperren Abenteuerspielplätze. An scharfe Waffen, die überall herumlagen, trauten wir uns aber nicht heran“, sagt Sonnabend. „Wobei ich zugeben muss, dass ich sehr beeindruckt war, als ich sah, wie russische Soldaten mit Handgranaten in der Havel Fische fingen.“
3. Mai: Der Spandauer Bürgermeister weist die Bevölkerung an, alle geplünderten Lebensmittel abzuliefern. Zwei Tage später ordnet die sowjetische Stadtkommandantur eine provisorische Regelung der Versorgung an: Erwachsene erhalten pro Tag 200 Gramm Brot, 10 Gramm Zucker, 25 Gramm Fleisch, 10 Gramm Salz, 400 Gramm Kartoffeln und 2 Gramm Kaffee. „Geplündert wurden freilich nicht nur Lebensmitteldepots, sondern auch die Kasernen, von denen es in Spandau einige gab. Das schlug sich sofort im Kleidungsstil nieder: Viele Frauen trugen rot-weiß oder blau-weiß karierte Kleider, die sie aus Wehrmachtsbettwäsche genäht hatten.“
7. Mai: Generaloberst Alfred Jodl unterzeichnet in Reims die bedingungslose Kapitulation Deutschlands vor den Westalliierten; zwei Tage später wird die Zeremonie in Berlin-Karlshorst für die Sowjets wiederholt. „Für die Spandauer war der Krieg jedoch erst im Juni beendet, nachdem sich die Russen zurückgezogen hatten und die Engländer eingerückt waren“, sagt Jörg Sonnabend. „Als Kinder hatten wir zwar nichts zu befürchten, aber die Frauen litten sehr unter den Besatzern – obgleich Stadtkommandant Nikolai Bersarin Racheakte an der Bevölkerung streng untersagt hatte.“
Juni: „Am 1. Juni endete die chaotische Zeit; wir mussten wieder zur Schule gehen. Den Ernst des Lebens aber“, so Sonnabend, „hatten wir da längst kennengelernt.“
Wir haben damals alles verdrängt, um weiterzuleben