Cher Dirk,
gesellschaftliche Veränderungen zu beobachten und zu begreifen, finde ich immens spannend. Selbst wenn ich sie nur als Zuschauerin miterlebe. So wie das Quiet Quitting, die sogenannte stille Kündigung. Bezeichnet wird damit eine – über soziale Netzwerke wie TikTok forcierte – Neudefinierung der Arbeitsmoral, die Überstunden und vertraglich nicht geregelte Extra-Tätigkeiten ablehnt. Treibende Kraft ist die Generation Z, also die gerade frisch erwerbstätigen unter 25-Jährigen. Laut Umfragen legen diese jungen Menschen besonders großen Wert auf gute Arbeitsbedingungen sowie das Gleichgewicht zwischen Privat- und Berufsleben. Um einen an sich okayen oder eventuell sinnvollen Job nicht gleich kündigen zu müssen, heißt das Mantra des Quiet Quitting: „Wir tun nur das Mindeste!“ Nun verstehe ich sowohl die Motivation, sich für ein Unternehmen, dessen Werte man unterstützt, überdurchschnittlich zu engagieren, als auch die Ablehnung von Jobs, die einen fertigmachen. Junge Menschen nur noch darauf zu trainieren, möglichst wenig zu leisten, fände ich jedoch befremdlich. Zu Ende gedacht führt das zu Isolation und Frust bei allen Beteiligten. Ich frage mich: Ist die zunehmend toxische Beziehung zur Arbeit dadurch begründet, dass unsere Kinder und Enkel quasi seit ihrer Geburt online und bereits zu Beginn des Arbeitslebens rund um die Uhr erreichbar sind? Ich hatte das Privileg, einen Beruf zu haben, den ich von frühmorgens bis spätabends liebte. Aber hätte ich ihn auch ohne Teamarbeit im Büro und den netten Plausch an der Kaffeemaschine mit Enthusiasmus ausgeübt? Ein ganzes Arbeitsleben am Esstisch vor dem Rechner, mit den Kindern im Nacken? Die totale Vermischung von Privatleben und Beruf, auch Work-Life-Blending genannt – für mich eine furchtbare Vorstellung! Aber womöglich ist das, ebenso wie das Quiet Quitting, eine Generationenfrage, oder?
Alles Liebe
Colombe
Liebe Colombe,
ich gehöre noch zur Generation X. Mit Deiner Generation, den Boomern, haben wir gemein, dass auch wir nach Wohlstand gestrebt haben. Zugleich ist uns bewusst geworden, dass wir ihn nicht im gleichen Ausmaß erreichen würden. Gemein ist uns auch, dass wir in Friedenszeiten aufgewachsen sind. Zugleich setzte spätestens mit den Anschlägen im September 2001 die böse Vorahnung ein, dass wir unsere Kinder in eine wesentlich instabilere Welt setzen würden. Das betrifft nicht nur die geopolitischen, sondern auch die ökologischen Verhältnisse: Die Ressourcen sind auf zerstörerische Weise aufgebraucht worden – maßgeblich von den Boomern, was zu intergenerationalen Verwerfungen führt, über die wir uns an anderer Stelle einmal austauschen sollten. Und obwohl auch wir über unsere Verhältnisse leben, so tun wir es doch in vollem Bewusstsein unseres Fehlverhaltens. Wir sind, wenn Du so willst, nicht nur zu spät zur Party gekommen – sie hat sich, kaum hatten wir den Saal betreten, in eine Trauerfeier verwandelt. Wenn Du also von einer „toxischen Beziehung“ zur Arbeit sprichst, so würde ich das vielmehr auf meine Altersgruppe beziehen: Wir malochen ähnlich hart wie die Generation zuvor, doch nicht mehr in der Hoffnung, uns einmal auf dem weichen Kissen des Erreichten ausruhen zu können. Einzig übrig geblieben ist ein überkommenes protestantisches Ethos, dessen Losung lautet: „Ohne Fleiß kein Preis.“ So befeuern wir die ohnmächtig sich nach vorn wälzende Fortschrittsmaschine, die wir doch längst hätten abbremsen müssen. Dass dies nun eine neue Generation zu tun scheint, indem sie den beruflichen Erfolg nicht mehr ins Zentrum ihres Denkens stellt, sondern sich intensiver mit sozialem Miteinander, Nachhaltigkeit und mit einer sinnvolleren Gestaltung der eigenen Lebensspanne befasst, das halte ich für erstaunlich erwachsen. Der Traum, dass einen die Chefs für Überstunden dankend in den Arm nehmen – das weiß ich aus eigener Erfahrung –, wird sich eh nie erfüllen.
Auf die jungen Leute!
Dein Dirk