Raue Krieger des Nordens

Die Wikinger waren Bauern und Handwerker, Seefahrer und Krieger, Händler und Räuber – mitunter in einer Person. Jahrhundertelang fürchteten Küstenbewohner das Auftauchen ihrer Drachenboote. Dabei konnten die Nordmänner mehr als Angst und Schrecken verbreiten.

Wikinger
Illustration: GraphicaArtis_Getty Images

Als wäre ein Rudel Wölfe über eine Schafherde hereingebrochen: Beim Wikingerüberfall auf die Klosterinsel Lindisfarne im Jahr 793 wurden die Mönche erschlagen, im Meer ertränkt oder verschleppt. Die ­Bluttat im englischen Königreich Northumbria löste in der Welt des frühen Mittelalters einen Schock aus. Verbreitet über Chroniken, vor allem aber durch den geistlichen Gelehrten Alkuin, der aus Northumbria stammte und am Aachener Hof Karls des Großen wirkte, erreichte die Kunde von dem Massaker weite Teile des christlichen Abendlandes. Der Angriff gilt als blutiges Fanal der Wikingerzeit: Mit Plünderungen, Brandschatzungen, Menschenraub, Versklavung und dem Abschlachten ganzer Dörfer versetzten die Clans aus Skandinavien zweieinhalb Jahrhunderte lang die Küstenbewohner Nord- und Mitteleuropas in Angst und Schrecken. Mit der Aussicht auf reiche Beute schlugen die kühnen Seefahrer und Entdecker, als die die Wikinger bis heute auch bewundert werden, immer wieder unerbittlich zu.

Der irische Historiker Colmán Etchingham spricht in der ARTE-Dokumentation „In den Fängen der ­Wikinger“ von „Banditen im Nebenberuf“. Das klingt wenig schmeichelhaft, trifft jedoch die überraschende Ambivalenz im Leben der Nordmänner. Denn zu Hause in ihren Siedlungen konnten die gefürchteten Krieger friedliche Bauern oder Handwerker sein. Und: Raubzüge wechselten sich mit Handelsreisen ab, durchaus mit denselben Akteuren. So unterschiedlich ihre Betätigungsfelder waren, so heterogen war auch die Zusammensetzung all jener skandinavischen Bevölkerungsgruppen, die man unter dem Namen Wikinger vereinte. Eine 2020 im Fachmagazin Nature veröffentlichte Studie, für die Skelette aus Fundstätten in ganz Europa und Grönland untersucht worden waren, belegt eine große genetische Vielfalt. Einflüsse selbst aus Asien und Südeuropa zeugen von regem Austausch mit weit entfernten Regionen. Und entlarven das überstrapazierte Stereotyp des blonden nordischen Kriegers reinen Blutes als das, was es ist: ein Mythos.

Aufbruch mit Todesmut
Unklar ist die Herleitung des Wortes „Wikinger“. Wahrscheinlich ist, dass der altnordische Ausdruck „­fara í ­viking“ Pate stand – „auf Kaperfahrt gehen“. Die weite Seereise könnte ebenso im Namen stecken wie das germanische „vik“, das schlicht Bucht bedeutet. Einigkeit herrscht über den wundersamen Todesmut der Seefahrer, die selbst nach schwersten Verlusten immer wieder zu Beutezügen aufbrachen. Ein Erfolgsgeheimnis der Wikinger waren ihre Schiffe. Bereits in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten bauten die Völker Skandinaviens hochseetaugliche Boote. Vom frühen Mittelalter an konnten die rauen Gesellen mit ihren Langschiffen – segelnd und rudernd – gleichermaßen Meere und Flüsse befahren. Das ermöglichte der geringe Tiefgang von weniger als einem Meter. Überragend schnell waren die Schiffe außerdem.

Die bevorzugten Ziele unterschieden sich je nach Herkunft. So zogen Wikinger-Gefolgschaften von Schweden aus vor allem Richtung Osten und Süden los. Sie überwanden riesige Distanzen, reisten beispielsweise durch das heutige Russland bis hinunter nach Konstantinopel. Aus Norwegens Fjorden ging es über die Nordsee ins Frankenland und zu den Britischen Inseln, auf dem Atlantik Richtung Island und später gar bis Neufundland vor Kanadas Küste.

In Irland, das zeigt die ARTE-Dokumentation, hatten die Plünderer, die ebenso rasch wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren, besonders leichtes Spiel. Gegenwehr war in den rivalisierenden Kleinkönigreichen kaum zu organisieren. Doch die Krieger aus dem Norden, die ihre Beute oft fern der Heimat auf Märkten handelten, kamen teils auch, um zu bleiben. Dublin etwa wurde um 840 zunächst Hafen der Wikinger, schließlich ein eigenes Königreich. Im karolingischen Westfrankenreich wurden sie unter der Bezeichnung Normannen ein wichtiger Machtfaktor. Die Normandie zeugt bis heute im Namen davon. Von dort aus eroberten die Nachkommen eben dieser sesshaft gewordenen Wikinger später Teile Süditaliens mitsamt Sizilien – und erstürmten 1066 unter Herzog ­Wilhelm dem Eroberer England.

Ironie der Geschichte, dass im selben Jahr auch der Spuk jener Epoche endete, in der fortwährend Wikinger aus Skandinavien als Schrecken in Menschengestalt vor fremden Küsten auftauchten. Norwegerkönig ­Harald ­Hardråde unterlag den Angelsachsen nahe dem nordenglischen York bei der Schlacht von Stamford Bridge. Gerade einmal 200 Kilometer liegen zwischen diesem Ort und der einst verheerten Klosterinsel Lindisfarne. 200 Kilometer – und 270 blutgetränkte Jahre.

In den Fängen der Wikinger

Geschichtsdoku

Samstag,
16.1. – 20.15 Uhr
bis 22.1. in der Mediathek