Rebellen mit Anstand

Mit den Songs der Beatles sind etliche Generationen erwachsen geworden – auch Autor und Kabarettist Frank Goosen. Zum 80. Geburtstag von Paul McCartney erinnert er sich an den Aufstieg des Pop-Genies.

Foto: Michael Ochs Archives/Getty Images

Als ich 1979 Fan der Fab Four wurde, war John ­Lennon mein erklärter Lieblingsbeatle, für mich als Einzelkind eine Art imaginärer großer Bruder, dessen Radikalität mich faszinierte. Paul McCartney war in dieser Familienaufstellung mein Halbbruder; George und Ringo waren meine Cousins. Mit meinem Halbbruder Paul verbinde ich bis heute einen entscheidenden Schritt meiner Reifung zum bedingungslosen Beatles-­Fan. Es ist ein besonderer Moment, wenn man zum ersten Mal eine Platte der Musik, der man verfallen ist, als Zeitzeuge im Moment des Erscheinens wahrnimmt. Für mich war das im Mai 1980 „­McCartney II“. Das Album ist auch der Grund dafür, dass ich die für Kenner ohnehin absurde Typisierung der ­Beatles – in der ­Ringo der Lustige war, ­George der Stille, John der scharfzüngige Intellektuelle und Paul nicht mehr als der süße Mädchenschwarm – nie mitgemacht habe. „­McCartney II“ war alles andere als süß, sondern ein eher experimentelles Album, das Paul, wie schon sein Solo-Debüt zehn Jahre zuvor, fast komplett allein eingespielt hatte, unter Verwendung von allerlei Synthesizern, aber eben auch wieder getragen von seiner magischen Fähigkeit, große Melodien zu schreiben.

Ich habe mir die Platte zu meinem 14. Geburtstag Ende Mai 1980 gewünscht, und obwohl meine Mutter sicher sein konnte, dass ich sie noch nicht hatte, hat sie die Innenhülle versiegeln lassen. Noch immer rührt mich der stark nachgedunkelte Streifen Tesafilm und der Stempel des längst vergessenen Ladens Die Schallplatte, den es mal an der Hans-Böckler-­Straße in Bochum gegeben hat. Ein Artefakt aus einer versunkenen Zeit.

Meine Familie watete damals knietief durch den deutschen Nachkriegsschlager. Auf den Partys meiner Eltern liefen Grausamkeiten wie „Griechischer Wein“ oder „Theo, wir fahr’n nach Lodz“. Wenn ich am Samstagabend bei meinen Großeltern war, schüttelte mein Oppa den Kopf, wenn in ­Ilja ­Richters „Disco“ zum Beispiel Deep Purple auftraten. „Watt singt der denn schon wieder Englisch?“, rief er dann, worauf ich zu bedenken gab, dass das Ian ­Gillan sei, der nun mal aus England komme. Mein Oppa: „Ja, in England kann der ja auch Englisch singen!“

Mit dieser Einstellung wollte ich nichts am Hut haben, andererseits war ich nicht der große Rebell. Punk ging an mir vorbei, und ich schloss mich auch keiner anderen Achtziger-Welle an, war kein Gruftie, Popper oder Öko – das wäre mir alles zu radikal gewesen. Die ­Beatles erlaubten mir gerade so viel Abstand vom familiären Festland, dass ich das rettende Ufer noch erkennen konnte. In seinem Roman „­Lennon“ lässt der Schriftsteller ­David ­Foenkinos den beim Psychoanalytiker auf der Couch liegenden John sagen: „Wir verkörperten eine Art kontrollierten Wahnsinn. Wir waren rebellisch und anständig zugleich.“ Das war genau mein Ding. Ihre Melodienvielfalt faszinierte mich und kam meinem Harmoniebedürfnis entgegen, und auch wenn Lennon-­Songs wie „Nowhere Man“ „In My Life“ oder „Don’t Let Me Down“ damals meine Beatles-­Charts anführten, muss ich heute eingestehen, dass kaum jemals eine schönere Melodie als die von Pauls „Here, There and Everywhere“ geschrieben wurde.

 

Vorzeigepaar: Paul und Linda McCartney waren ein gutes Team, sie gründeten auch die bis 1981 bestehende Band Wings. Foto: David Montgomery/Getty Images

 

NACH HAUSE KOMMEN

Nach meiner formativen Phase als Beatles-Fan zwischen 1979 und 1982 habe ich mich für alle möglichen Musikerinnen und Musiker interessiert, aber die vier Verwandten zu hören war immer ein bisschen wie nach Hause zu kommen. Die -Beatles, als Gruppe wie als Solo-Künstler, zeigten mir die Richtung, wenn ich nicht wusste, wo rechts und wo links war.

Jetzt wird Paul 80 und scheint immer noch vor Kreativität zu platzen. Er hat die zartesten Balladen im Portfolio, aber als er seinerzeit las, The Who seien die härteste Band der Welt, knallte er ihnen und uns „Helter Skelter“ um die Ohren. Er kann Filmmusik und Stadionrock, Experimente unter Pseudonym und klassische Oratorien. Er malt, hat zum Beispiel das Cover seiner 2018er LP „Egypt Station“ selbst gestaltet und schreibt Kinderbücher. Es scheint ihn lange geschmerzt zu haben, dass manche ihn in -Lennons Schatten stellen wollten, was Blödsinn ist – aber es wirkte schon etwas uncool, als er die jahrzehntelang tradierte Autorenzeile Lennon–McCartney ändern wollte. Heute weiß er, was er den Leuten geben muss, und erzählt, dass er ständig an John denkt, ihm leider nie gesagt hat, dass er ihn liebt und dass er oft von ihm träumt.

Bob Dylan soll über Lennons Drang zum Seelenstriptease gesagt haben: „John muss immer die Hosen runterlassen“ – und als Teenager fand ich beeindruckend, dass er in Songs wie „Mother“ sein Innerstes nach außen kehrte. Ich litt doch auch, zwar nicht wegen meiner Eltern, sondern wegen der Welt und weil ich ständig unglücklich verliebt war. Heute schätze ich an Paul, dass er das gerade nicht tut; dass er die Hosen meist oben behält, seine musikalischen Mittel voll im Griff hat und bei den Texten eher Wortspieler ist als Bekenner. „Well I can find my way, I know my left from right“, singt er auf seiner bisher letzten Platte. Auf die nächsten 80 Jahre, Halbbruder Paul!

Paul McCartney: Eine Beatles-Legende

Porträt

Donnerstag, 16.06. — 20.15 Uhr