Vom Kino an die Front

Mit dem Gangster-Drama „Rhino“ blickt ­Oleh ­Sentsov ungeschönt auf das Chaos der 1990er in der Ukraine. In der Gegenwart kämpft der Filmemacher weiter für sein Land im Krieg.

Regisseur ­Oleg ­Sentsov
Ein junger Mann – Spitzname: Rhino – schlägt sich in den 1990er Jahren als einfacher Dieb in der Ukraine durch und gerät dann immer tiefer in den Strudel krimineller Machenschaften. Sein Leben ist geprägt von Gewalt und Grausamkeiten, doch das will er ändern. Regisseur ­Oleg ­Sentsov im März 2022, kurz nach dem Beitritt zum Militär. Foto: Laurent Van der Stockt / Le Monde / Getty Images

Eigentlich sollte seine jüngste Mission Anfang August beendet und er in Sicherheit sein, irgendwo abseits der Frontlinie. Er hätte dann gerne via Video­call Fragen zu seinem Film „­Rhino“ beantwortet, den ARTE im September zeigt. Doch Krieg lässt sich nicht planen wie eine Promotion-Tour. Die gute Nachricht: Der ukrainische Regisseur ­Oleh ­Sentsov hat, obwohl er nicht rechtzeitig für ein Gespräch zurückkehrte, ein Lebenszeichen gesendet. Die schlechte: Sein wohl lebensgefährlicher Einsatz an der Front dauert an. „Es tut uns leid, aber wir befinden uns an einem kritischen Punkt des Krieges, das beeinflusst alle Pläne“, sagt ­Denis ­Ivanov, Produzent von „Rhino“, der sich von Kiew aus auch während dessen Kampfeinsätze regelmäßig mit ­Sentsov austauscht.

Das Gangster-Drama „Rhino“ hatte im Herbst 2021 auf den Filmfestspielen von Venedig Premiere gefeiert – nur wenige Monate bevor Russland die Welt mit seinem Überfall auf die Ukraine schockierte. ­Oleh ­Sentsov blieb nur wenig Zeit zur Freude über sein bislang umfangreichstes Filmprojekt, das international gute Kritiken erhielt. Unmittelbar nach Russlands Angriff im Februar 2022 schloss sich der Filmemacher den ukrainischen Verteidigungseinheiten an. Wer ist dieser Mann, der nicht nur zu den erfolgreichsten Filmemachern seines Landes zählt, sondern zeitweise auch dessen prominentester politischer Häftling war?

Geboren wurde Oleh Sentsov in Simferopol, der Hauptstadt der 2014 völkerrechtswidrig von ­Wladimir ­Putin annektierten ukrainischen Halbinsel Krim. In seiner Jugend erlebte er den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Folgen für den Alltag der Ukrainer: chaotische, teils anarchische Zustände, Armut und eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft. Bevor er schließlich seine früh entdeckte Leidenschaft für Film und Literatur professionalisierte, studierte ­Sentsov Ökonomie an der Staatlichen Wirtschaftsuniversität in Kiew.

Bereits mit seinem Spielfilmdebüt „Gamer“, das er 2012 beim Filmfestival in Rotterdam vorstellte, ließ ­Sentsov international Kritiker aufhorchen. Gefühlvoll und mit viel Liebe zum Detail zeigt das Drama, wie ein Jugendlicher sein Talent für Videospiele einsetzt, um dem öden Alltag in seinem Dorf in der Ukraine zu entfliehen. Erste Dreharbeiten für „Rhino“ finanzierte ­Sentsov mit den Erlösen aus „­Gamer“; der Ausbruch der Euromaidan-Proteste Ende 2013 legte jedoch alle Pläne auf Eis. Es sollte die erste von mehreren unfreiwilligen Karrierepausen werden. Als Russland wenige Monate später die Krim besetzte, half ­Sentsov bei der Lebensmittelversorgung ukrainischer Soldaten in seiner Heimat – und bezahlte einen hohen Preis dafür: Die russischen Behörden beschuldigten ihn, terroristische Aktivitäten geplant zu haben – eine Anklage, die Menschenrechtsorganisationen und westliche Regierungen als politisch motiviert betrachteten. ­Sentsov wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt und zeitweise in die berüchtigte Strafkolonie IK-8 nach Sibirien verlegt. Sein Fall löste international Empörung aus und führte zu zahlreichen Solidaritätsbekundungen. 2018 startete der Filmemacher einen Hungerstreik, um in Russland inhaftierte politische Gefangene der Ukraine freizubekommen. Er hielt 145 Tage durch und gab erst auf, als man ihn zwangsernährte. 

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Rhino

Gangsterfilm

Montag, 2.9. — 22.45 Uhr
bis 1.10. in der
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