Ein und derselbe Mensch kann sich am Anblick eines Kälbchens erfreuen – und im nächsten Moment ein Wiener Schnitzel bestellen. Das süße Jungtier auf der Weide und das flachgeklopfte Stück Fleisch auf dem Teller lassen sich im Bewusstsein voneinander trennen. Fleisch-Paradox nennt die Wissenschaft das Dilemma. Man weiß um Massentierhaltung, Schlachtfabriken und Klimabilanz – und isst trotzdem weiter Tiere. Auch weil das Töten und Zerteilen schon lange vom Verspeisen entkoppelt ist. Und weil es für die meisten normal ist.
Im Fall des Rinds begann der Gewöhnungsprozess an das Nutztier, das Pflug oder Karren zog, das man melken und schließlich aufessen konnte, schon vor rund 10.000 Jahren. Die ARTE-Dokureihe „Muh! Die Geschichte des Hornviehs“ zeichnet nach, wie sesshaft gewordene jungsteinzeitliche Ackerbauern im sogenannten Fruchtbaren Halbmond erstmals eurasische Auerochsen domestizierten. Was in der Region zwischen dem heutigen Anatolien und Syrien seinen Anfang nahm, führt im Ergebnis zu Holstein-Kuh und Rotbuntem Niederungsrind, zu Fleck- und Braunvieh, zu Limousin, Charolais und sämtlichen anderen Rassen auf hiesigen Weiden und Almen – vor allem aber in Ställen.
Neun von zehn Rindern werden laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) in Laufställen gehalten, dabei hat nur „etwa jedes dritte Rind im Sommer regelmäßigen Weidegang“. Nicht viel, werden doch in Verbraucherumfragen regelmäßig Tierwohl und artgerechte Haltung als wichtige Kriterien genannt, für die beim Einkaufen höhere Preise akzeptiert würden. „Rinder sind ökonomisch gesehen die wichtigsten Nutztiere in der deutschen Landwirtschaft“, heißt es auf der Website des Ministeriums. Elf Millionen Rinder zählt Deutschland, Tendenz leicht sinkend. Die 3,8 Millionen Milchkühe in der bundesrepublikanischen Herde machen das Land zu Europas größter Milchkanne. Im Durchschnitt gibt ein heimisches Euter nach BMEL-Angaben jährlich 8.500 Kilogramm, umgerechnet knapp 8.300 Liter. Insgesamt ergibt das 32,5 Millionen Tonnen Milch. Beim Rind- und Kalbfleisch liegt Frankreich mit 1,4 Millionen Tonnen Schlacht- gewicht vorn, Deutschland produziert 990.000 Tonnen.
Mittlerweile ändern die Deutschen ihre Ernährungsgewohnheiten – wenn auch scheibchenweise. Der Pro-Kopf-Fleischverzehr sank auf 52 Kilogramm im Jahr, der niedrigste Wert seit Beginn der Erhebung 1989. Statistisch aß jeder 2022 knapp neun Kilogramm Rind- und Kalbfleisch. Bei Schwein fällt der Rückgang stärker aus; mit Entrecôte lässt sich eben mehr renommieren als mit Eisbein. Milch wird ebenfalls weniger getrunken: knapp 45 Liter, ein Rekordtief. Dennoch kommen Ersatzprodukte aus Hafer, Soja und Co. bislang nur auf einen Zehn-Prozent-Anteil. Eher bescheiden wächst auch das Geschäft mit vegetarischem oder veganem Fleischersatz: Der Gesamtwert der Ware vom Tier lag mit 42 Milliarden Euro beim 80-fachen der Veggie-Erzeugnisse.
KLIMAKILLER KUH
Neben der ethischen Frage, ob man Tiere überhaupt essen darf, entzündet sich Kritik am Fleischkonsum vor allem an Klimafolgen. „Maßgeblich“ trägt die Landwirtschaft aus Sicht des Umweltbundesamtes zur Emission von Treibhausgasen bei, vor allem durch Methan, das wiederkäuenden Rindern beim Verdauen entweicht. Dagegen ist kein Kraut gewachsen, das weiß man auch beim Deutschen Bauernverband. Die Agrarlobbyisten zeigen mit der Heugabel auf Energieerzeuger und Verkehr als größere Verursacher – und verweisen auf die Klimaeffizienz heimischer Kühe: Ihre hohe Leistungsfähigkeit senke rechnerisch den Ausstoß von Treibhausgasen je Liter Milch im weltweiten Vergleich auf einen Bestwert. Klimaschutz mit Turbokühen? Es ist kompliziert.
Ein schwerer Schatten fiel vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten auf das zwischen Sympathie und Nützlichkeitserwägungen schwankende Verhältnis zum Rind. Damals sprang die BSE-Seuche aus Großbritannien in die deutschen Bestände über. Die Abkürzung steht für Bovine Spongiforme Enzephalopathie, eine landläufig Rinderwahn genannte, auch für Menschen gefährliche Hirnerkrankung. Die Schockbilder kollabierender Tiere ließen den Rindfleischabsatz einbrechen und kosteten 2001 Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne) ihr Amt.
Es dauerte, bis die Kuh vom Eis war, also die Krise bewältigt. Nur eine von vielen Redensarten, die auch sprachlich die lange Verbindung zu den Paarhufern belegen. Wird einem etwas zu viel, geht es auf keine Kuhhaut. Unantastbares ist eine heilige Kuh. Der Begriffsstutzige steht wie der Ochs vorm Scheunentor. Und die Beschimpfung als „dumme Kuh“ hat schon manches Bußgeld nach sich gezogen. Besser, man lässt die Kuh fliegen.