Zwei Megametropolen, zwei Extreme: Während in New York City immer mehr Wohlhabende in millionenteure, ultraluxuriöse Penthouse-Wohnungen einziehen, herrschen auf den Dächern von Hongkongs Hochhäusern oft noch prekäre Verhältnisse. Tausende Menschen leben dort in luftiger Höhe in improvisierten Wellblechbauten – immer in der Angst, dass sie der nächste Taifun vom Dach fegt. Die ARTE-Dokumentation „Leben ganz oben – Rooftop“ porträtiert Menschen beider Städte und zeigt, wie ihr Leben mit bester Aussicht auf die Skylines und die zerklüfteten Straßenschluchten aussieht. Blickt man auf Immobilien-Angebote in Berlin, Paris und anderen europäischen Großstädten, zeigt sich: Auch hier werden Rooftops und Penthouses längst als Orte des Luxus vermarktet – Whirlpool und Panoramafenster inklusive. Doch es gibt zudem Bemühungen, das Potenzial von Hausdächern völlig neu zu denken: als eine Art Labor der Zukunft.
Während unten auf den Straßen gefühlt jeder Quadratmeter städtebaulich erschlossen ist, beläuft sich in Europas Städten die Fläche der ungenutzten Dächer teils auf mehrere Dutzend Quadratkilometer. Was ließe sich dort alles umsetzen? Allerlei visionäre Ideen dafür gibt es bereits – sie reichen von modularen Dachaufbauten im Sinne der Stadtverdichtung bis hin zu innerstädtischer Landwirtschaft, Stichwort: Urban Farming. Doch noch scheinen europäische Städteplaner zögerlich, was auf Gemeinwohl ausgerichtete Rooftop-Konzepte angeht. Warum ist das so?
Intensiv beschäftigen sich beispielsweise die Bewohnerinnen und Bewohner der niederländischen Hafenstadt Rotterdam mit ihren brachliegenden Hausdächern, was kaum verwundert: Die Niederlande zählen zu den am dichtesten besiedelten Ländern Europas. Während in Frankreich rund 120 und in Deutschland knapp 250 Einwohner pro Quadratkilometer leben, zählt man in den Niederlanden 500 Einwohner pro Quadratkilometer. „Wir wollen zeigen, dass Hausdächer zu einer gesunden, lebendigen, integrativen, nachhaltigen, attraktiven und widerstandsfähigen Stadt beitragen können“, schreibt die unabhängige Organisation Rotterdamse Dakendagen (Rotterdamer Dächertage) auf ihrer Homepage. Mit 18,5 Quadratkilometern größtenteils leerer Flachdächer böten Rotterdams Rooftops „ein erhebliches Potenzial für innovative Konzepte“. Mehrmonatige Aktionen über den Dächern der Stadt – darunter der Rotterdam Rooftop Walk, bei dem Hochhausdächer mit aufwendigen Brücken für eine Freiluft-Ausstellung verbunden wurden – sollten die Bürger der Stadt zum Mitdenken motivieren. Dass das geglückt ist, zeigt ein online frei abrufbarer, 138-seitiger Rooftop-Katalog: Mit bunten Illustrationen und Texten, die auch ohne Architekturstudium zugänglich sind, träumen die Rotterdamer darin von einem Utopia, das sich über ihrer Stadt entfaltet. Kleine Kostprobe: Wie wäre es mit einer Glaskuppel als Dachaufsatz, die ein tropisches Palmenhaus beinhaltet? Gut ein Dutzend weiterer Begrünungsideen kämen ohne zusätzliche Verglasung aus, benötigten aber eine dicke Substratschicht: Aufgeführt sind zum Beispiel Fabrikdächer, die wahlweise als Friedhof, Weingut, Tulpenfeld oder Schmetterlingsgarten genutzt werden könnten. Noch ambitionierter wirkt, neben allerlei Ideen zur Energiegewinnung, der horizontal gedachte „Vertical Park“: Der sieht für größere Dächer Grünflächen vor, die sich über mehrere offene Ebenen erstrecken und für parktypische Freizeitaktivitäten genutzt werden können.
Deutsche Städteplaner haben das ungenutzte Potenzial von Hausdächern noch nicht hinreichend erkannt, sagt Stadtsoziologe Frank Eckardt im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Konzentrierte Bemühungen wie in den Niederlanden fehlten, weil Städte wie Berlin oder Frankfurt noch zu viel Platz am Boden hätten, betont der Professor für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung am Institut für Europäische Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar. Eckardt plädiert dennoch dafür, die Zukunft der Dächer bereits heute mitzudenken: „Wir Deutschen sollten kreativer und mutiger werden, was die Umgestaltung des bestehenden Dachbestandes betrifft. Denn wir benötigen überall mehr bezahlbaren, innerstädtischen Wohnraum und müssen Platz für die Prozesse der Klimaanpassung schaffen.“ Eine Entwicklung wie in New York, wo Rooftops vor allem als Reichenrefugien gestaltet werden, gelte es laut Eckardt zu vermeiden. „Unsere Hausdächer bieten noch Möglichkeiten für gesellschaftliche Experimente. Warum packen wir zum Beispiel nicht unsere Müllstationen auf die Dächer, um unten Flächen zu entsiegeln? So etwas erfordert ein Umdenken und Investitionen, könnte sich aber langfristig rechnen.“ Rooftops wären dann weder luxuriös noch prekär, sondern vor allem: extrem nützlich.
Warum packen wir nicht Müllstationen auf Dächer, um unten Flächen zu entsiegeln?