Mark Rothko stand im Zentrum einer Gruppe von Malern, die ab den 1940ern die New Yorker Kunstwelt aufmischte – und die erste große Bewegung der US-amerikanischen Malerei begründete: den Abstrakten Expressionismus. Heute zählen Rothkos Gemälde zu den gefragtesten zeitgenössischen Kunstwerken; 2021 erzielte sein „No. 7“ (1951) bei einer Auktion die Rekordsumme von 82,5 Millionen Dollar. Noch bis April 2024 zeigt die Pariser Fondation Louis Vuitton in einer Retrospektive, kuratiert von Suzanne Pagé und Rothkos Sohn Christopher, 115 seiner Werke. „Rothko war sich bewusst, dass es viele Menschen gibt, die vor seinen Werken weinen“, sagt Pagé im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Wie kommt es, dass Rothkos Kunst nicht an Aktualität verliert – und derartige Emotionen und Preise hervorruft?
VOM FIGURATIVEN ZUR FARBFELDMALEREI
Als Mark Rothko, geboren am 25. September 1903 als Marcus Rothkowitz im damals russischen Dwinsk, 1923 nach New York zog, nahm ein Freund den in Dreiteiler und Borsalino gekleideten Neuankömmling spontan zu einem Zeichenkurs mit. „Ich wusste sofort, dass das mein Leben sein würde“, sagte Rothko rückblickend. Die antisemitischen Pogrome in Russland hatten seine jüdische Familie zuvor gezwungen, in die USA zu fliehen. „Rothko sah sehr klar, was auf der Welt vor sich ging“, so Pagé. „Die 1930er in New York waren Jahre der Krise, was sich in seinen Bildern zeigt: melancholische Metro-Szenen mit isolierten Menschen.“ Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs pausierte Rothko das Malen. „Die Künstler der New Yorker Schule, darunter auch Adolph Gottlieb und Barnett Newman, stellten sich die Frage nach dem Subjekt. Wovon kann Kunst handeln in diesem Moment des absoluten Dramas?“ Als Rothko wieder zum Pinsel griff, verschwanden die Figuren aus seinen Gemälden – und machten Platz für surreale, biomorphe Formen, dann für immer abstraktere Farbwolken: die „Multiforms“ (1948). Sie leiteten über zur Farbfeldmalerei: „In den 1950ern entstehen Rothkos absolut emblematische Werke: zwei oder drei rechteckige Streifen mit undefiniertem Rand und unendlichen Farbnuancen.“
EINE NEUE DIMENSION
46 Zentimeter vor der Leinwand – so hat Rothko die Position der Betrachtenden vorgesehen. Um sie gewissermaßen an den Platz des Malers zu stellen, ließ er die farbenreichen Bilder bewusst bodennah hängen. „Ich male großformatige Bilder, weil sie die Betrachter in sich hineinziehen“, erklärte er. „Mir ist bewusst, dass große Bilder historisch gesehen Pomp und Grandeur bedeuten. Ich aber male sie, weil ich intim und menschlich sein will.“
DIE ALCHEMIE DER FARBEN
Tangerine, Rostbraun, Rot – die Materialität von Rothkos Farbflächen wird durch seine großen Formate betont. Nach einer Italienreise kehrte er mit neuen Rezepten zum Anmischen von Farbe zurück, mit denen er wie ein Alchemist experimentierte. Kamen Freunde ins Atelier, waren alle Spuren beseitigt. „Seine Farben waren sein höchstes Gut, sein Zauberelixier. Er hütete ihr Geheimnis“, verriet Robert Motherwell (1915–1991) über seinen Künstlerfreund. „Er entwickelte eine Emulsion aus Ei, Ölfarbe, Dammarharz und Leinöl, die sich gut auftragen ließ“, erklärt Marion Boyer, Restauratorin der Musées de France. In den späten 1960er Jahren malte der bereits erkrankte Rothko im Auftrag der Unesco eine Serie schwarz-grauer Gemälde. „Die geläufige Erklärung ist, er habe die Farben gewählt, weil er krank und depressiv war“, erzählt Pagé. „Dabei war es Alberto Giacomettis Kunst, die ihn dazu inspirierte. Er malte bis zum Schluss sehr bunte Bilder, die wir in der Ausstellung zeigen.“
FUNDAMENTALE KOMPLEXITÄT
Doch Rothko stellte alles infrage, auch die Farbigkeit: „Ich bin kein Kolorist“, bekräftigte er. Vielmehr beschäftigte ihn der Inhalt mehr als die Form – und schon gar nicht die dekorative Kunst. Er weigerte sich auch, seine Kunst als abstrakt zu bezeichnen. In jedem Quadratzentimeter seiner Gemälde habe er ein Maximum an Gewalt eingefangen, sagt Suzanne Pagé. Schon zu Lebzeiten, bevor er sich im Februar 1970 in seinem Atelier das Leben nahm, feierte Rothko damit große Erfolge – etwa 1958 als Repräsentant der Biennale Venedig oder 1961 mit einer Retrospektive im MoMA, die Salvador Dalí besuchte. Oder 1967, als er beauftragt wurde, in Houston eine ganze Kapelle zu gestalten. „Mich interessiert einzig und allein, grundlegende menschliche Emotionen auszudrücken: Tragik, Ekstase, Sterblichkeit“, so Rothko. In dieser Tiefe müsse man den Künstler verstehen, über das Verführerische seiner Werke hinweg, unterstreicht Pagé. „Ich denke, das ist der Grund, warum seine abstrakten Motive so starke Reaktionen hervorbringen.“