Runter vom Fahrersitz

Der Glaube an Freiheit und Selbstbestimmung am Steuer wird in Deutschland hochgehalten. Konzerne polieren ihr im Dieselskandal beschädigtes Image mit Elektroautos auf. Mobilität braucht einen Systemwechsel: Wir müssen uns fahren lassen.

Illustration: Andrea Ucini

Es gibt noch gute Nachrichten: Das Elektroauto habe 2020 den „Durchbruch“ geschafft, meldete Der Spiegel zum Jahresende. Knapp zehn Prozent aller neuen Fahrzeuge fahren ausschließlich mit Strom, im Vorjahr waren es erst zwei Prozent. Die Gründe für den Boom liegen in üppigen staatlichen Förderungen, der erhöhten Reichweite der Modelle und im wachsenden Netz von Ladesäulen. Der Autoexperte ­Stefan ­Bratzel vom Center of Automotive Management (CAM) spricht gar von einem „Paradigmenwechsel der Antriebstechnologien“. Aber bedeutet der Durchbruch des Elektroautos wirklich schon die lang ersehnte Mobilitätswende? Und zugleich die Rettung der deutschen Autobauer nach dem Abgasskandal, dessen Folgen und juristische Aufarbeitung die ARTE-Dokumentarfilm „#Dieselgate: Die kriminellen Machenschaften der Autoindustrie“ nachzeichnet.

Bereits in der automobilen Frühzeit galt das Elektroauto als kultiviertere Alternative zum lauten, stinkenden Verbrennungsmotor. Doch schon damals zeigten sich die Schwächen der Technologie, vor allem die geringe Reichweite und die aufwendige Infrastruktur. Beide Probleme sind immer noch nicht gelöst, auch wenn das Vertrauen der Käufer wächst. Hinzu kommen die hohen Kosten, die entstehen, ungeachtet der großzügigen Kaufprämien, mit denen der Staat den Herstellern unter die Arme greift.

#Dieselgate: Die kriminellen Machenschaften der Autoindustrie

Dokumentarfilm

Dienstag, 23.2. — 20.15 Uhr
bis 23.5. in der Mediathek

Land der Dichter, Denker – und Lenker Im Stadtverkehr wird sich das abgasfreie Elektroauto vermutlich durchsetzen, das ist zumindest gut für die Luftqualität. Die Klimabilanz hingegen ist weniger beeindruckend, solange der Strom aus fossilen Quellen stammt. Vor allem aber hält das Elektroauto am Grundkonzept des Automobils fest, wenngleich es anders angetrieben wird: Auch Elektroautos brauchen Parkraum und verstopfen die Straßen. Eine ernsthafte Mobilitätswende erfordert nicht nur neue Antriebe, sondern eine neue Idee von intelligenter, flexibler Mobilität, von Carsharing und Robotertaxis bis zur Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs. Wer Mobilität neu denken will, muss sich von der Fixierung aufs eigene Auto lösen – und damit von einem deutschen Mythos. Nirgendwo sonst, außer vielleicht in den USA, steht das Auto so sehr für Freiheit und Selbstbestimmung. Deutschland ist nicht nur das Land der Dichter und Denker. Es ist auch das Land der Lenker und eben deswegen das einzige ohne ein generelles Tempolimit auf der Autobahn.

Der Blick der deutschen Autoindustrie ist bis heute der Blick des Fahrers – eine verengte Perspektive, ein Tunnelblick. Es geht um PS und Überholprestige, weniger ums intelligente Vorwärtskommen. Mit dem Elektroauto kann sich die Branche auch deshalb anfreunden, weil es so flink beschleunigen kann; insofern lässt sich der deutsche Automythos auch auf die Elektromobilität übertragen. Die Frage ist allerdings, ob die deutschen Konzerne auf Dauer mit innovativen Herstellern wie ­Tesla (und bald vielleicht auch ­Apple) mithalten können. Schon heute sind Autos mehr oder weniger rollende Computer. Da zählen die alten Tugenden des hiesigen Automobilbaus kaum noch. Der Erfolg von ­Tesla beruht eben weniger auf optimierten Karosserie-Spaltmaßen und perfekter Fahrwerksabstimmung als auf digitaler Intelligenz und Vernetzung, von der Fahrzeugwartung bis zum Vertrieb.

Die Digitalisierung bringt die deutsche Autoindustrie in ein weiteres Dilemma: Je intelligenter die Fahrzeuge werden, desto bedeutungsloser wird die Rolle des Fahrers – und damit schwindet der „Fahrspaß“, mit dem die Industrie so gerne wirbt. Das völlig autonome Auto wäre, falls es jemals fährt, das Ende des deutschen Automythos, der seit den Anfängen von Abenteuer und Heldentum handelt. Autofahren hieße dann nicht mehr „fahren“, sondern „gefahren werden“. Das aber wäre die ultimative Demütigung des deutschen Autofahrers, der dann nicht einmal mehr selbst am Steuer sitzt. Manche mögen Freude an der Technik haben. Aber ein perfektes Überholmanöver macht eben weniger Spaß, wenn es nicht der Fahrer selbst durchführt, sondern der Computer.

Die Autoindustrie wird sich endgültig von der Vorstellung verabschieden müssen, dass Menschen ein eigenes Auto brauchen. Selbst das intelligenteste Fahrzeug ersetzt nicht intelligente, vernetzte Mobilität. Das deutsche Automobil stand einmal für deutschen Ingenieursgeist und Fortschrittsglaube, für das Wirtschaftswunder nach dem Krieg. Heute ist es Zeit für ein neues Leitbild. Die Freiheit der Deutschen stellt sich nicht bei Tempo 200 auf der Autobahn ein, sondern durch eine intelligentere, klimafreundlichere Mobilität – eine neue Leichtigkeit des Fahrens, ohne Bleifuß auf dem Gaspedal.

Das autonome Auto wäre das Ende des deutschen Automythos

Thomas Vašek, Publizist