Schöne neue Einkaufswelt

Große Einzelhandelskonzerne bangen um ihre Marktmacht. Denn die Digitalisierung der Lebensmittelbranche schreitet zügig voran – befeuert von neuen Konzepten der mächtigen Online-Konkurrenz.

Supermarkt
Foto: Charles Gullung/Getty Images

Es kostet alles Zeit: das lange Anstehen, das Verladen der Einkäufe aufs Kassenband, der Smalltalk mit dem Kassierer. Das muss dem reichsten Mann der Welt missfallen haben – denn wenn Zeit Geld ist, ist Warten zu teuer. 2012 setzte Amazon-­Gründer Jeff ­Bezos ein Team aus Softwareingenieuren, Datenwissenschaftlern und Designern darauf an, die Kasse aus dem Supermarkt zu verbannen. Vier Jahre später eröffnete der erste Laden mit der sogenannten Just-Walk-Out-Technologie in Seattle: einfach gehen, ohne Kasse, ohne Warten. Kunden und Kundinnen können Artikel aus den Regalen nehmen und aus dem Geschäft herausspazieren. Kameras, Bewegungssensoren und in die Regalböden integrierte Waagen registrieren, welche Produkte mitgenommen werden. Beim Verlassen des Geschäfts wird der Preis der Waren per App abgebucht.

Mittlerweile gibt es 28 Just-Walk-Out-Märkte in den USA und einen ersten Ableger in London. ­Bezos will mit dem Konzept den stationären Lebensmittelhandel erobern – und damit die letzte Bastion der Branche, in der das Internet bisher eine untergeordnete Rolle spielte. Der ehemalige Amazon-­Strategieberater ­Brittain Ladd schätzt, dass der Onlinehändler innerhalb der nächsten zehn Jahre ein Filialnetz von 2.500 bis 3.000 Supermärkten ausbauen wird. Dabei seien Lebensmittel Teil von Amazons weitreichender Monopolisierungsstrategie, sagt der Branchen­insider in der ARTE-Dokumentation „Auslauf­modell Supermärkte?“.

1994 hatte Bezos Amazon als Onlinebuchhandlung gegründet. Mit dem Ziel, zum globalen Vollversorger zu werden, kamen immer mehr andere Waren hinzu. Inzwischen können Kunden sich ihren gesamten Wocheneinkauf vor die Haustüre liefern lassen. Mit dem Amazon Fresh genannten Bringservice überholte der Onlinehändler unlängst Walmart, den bis dato größten Einzelhandelskonzern der USA: Laut Schätzungen des Forschungsunternehmens FactSet gaben Kunden im vergangenen Jahr etwa 610 Milliarden Dollar bei Amazon aus. Walmart meldete einen Umsatz von 566 Milliarden Dollar. Ein „Meilenstein in der Verlagerung vom stationären zum Online-Einkauf“, kommentierte die New York Times.

In Deutschland ist die Revolution des Lebensmittelhandels bislang ausgeblieben: Der Gesamtanteil aller im Internet umgesetzten Produkte beträgt derzeit lediglich ein Prozent. Derweil konnten die „Großen Vier“ des deutschen Markts – ­Edeka, ­Rewe, ­Aldi und die Schwarz-Gruppe mit ­Lidl und ­Kaufland – ihre Umsätze deutlich steigern. Während der Pandemie seien sogar Rekordgewinne erzielt worden, betont Kai Hudetz, Geschäftsführer des Instituts für Handelsforschung (IFH Köln), im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Nichtsdestotrotz werden auch hier die Karten durch die Digitalisierung neu gemischt, denn innerhalb des Onlinehandels sind Esswaren der am stärksten wachsende Bereich.“

Auslaufmodell Supermarkt?

Dokumentarfilm

Dienstag, 12.10. — 20.15 Uhr
bis 10.12. in der Mediathek

Der Supermarkt als Datenkrake
Dass die Sorge vor dem Onlinegiganten präsent ist, lässt sich an den hauseigenen Lieferdiensten feststellen, die ­Rewe ­und Edeka unlängst an den Start brachten und die nun mit einer Reihe Start-ups wie Flink, ­Getir oder ­Picnic um die Internet-Kundschaft konkurrieren. ­Das Berliner Unternehmen Gorillas etwa verspricht, Waren innerhalb von zehn Minuten zu liefern – und damit weitaus schneller als die Herausforderer. Aus Sicht von ­Brittain Ladd, der von 2015 bis 2017 an der Expansionsstrategie von ­Amazon Fresh mitgewirkt hat, ist sein alter Arbeitgeber jedoch nur schwer zu stoppen. „­Amazon ist mehr als eine Billion Dollar wert. Das Unternehmen kann jegliche Immobilie für eigene Filialen erwerben – und locker andere Einzelhändler aufkaufen.“ 2017 etwa übernahm ­Amazon die Biomarkt-­Kette Whole Foods mit 500 Filialen in den USA, Kanada und Großbritannien.

Kritik am wachsenden Einfluss des US-Konzerns kommt nicht nur von Einzelhändlern. „­Amazon will den globalen Handel in allen Bereichen des Lebens kontrollieren – und Esswaren sind ein wichtiger Teil der Wirtschaft“, sagt ­Stacy ­Mitchell in der ARTE-Doku. Die Marktforscherin des Institute for Local Self-Reliance – einer NGO für kommunale Eigenwirtschaft – kritisiert: „­Amazon will so viel wie möglich über uns wissen. Was wir essen und wie wir Lebensmittel einkaufen, verrät eine Menge.“ Datenschützer warnen deshalb vor Just-Walk-Out-Märkten: In den digital hochgerüsteten Häusern bleibe keine Bewegung unbeobachtet, der Konsument sei gläsern wie nie. Die an der Kasse gesparten Minuten bezahlen Kunden am Ende mit der Preisgabe persönlicher Daten.

Amazon will den globalen Handel in allen Bereichen des Lebens kontrollieren

Stacy Mitchell, Marktforscherin