SHOUT IT OUT LOUD

BUSINESS Kiss aus New York haben das Geschäftsmodell Rockband perfektioniert. Neben Songs und Konzertbombast im Angebot: Kondome, Särge und Kreuzfahrten.

Foto: Fin Costello/Redferns/Getty Images

Die eventuell größte Show der Welt startet mit Verspätung. Bevor die New Yorker Rockband Kiss auf die Bühne kommt, bevor die Laser aufblenden und die Magnesiumböller knallen, die Gitarren losdonnern und die Kunstblitze den Leuten in den vorderen Reihen die Nasenhaare wegbrennen – bevor das alles passiert, schauen die Fans in den Stadien oft auf die Uhren, vorwurfsvoll. Heißt es nicht immer, Kiss seien nach über 45 Jahren Karriere absolute Dienstleistungsprofis? Wieso kommen sie zu spät?
Doc McGhee, windiger Musikbusiness-Impresario und seit 1996 Manager von Kiss, hat es in einem Interview erklärt. Vor den Konzerten, so McGhee, halte sein Team alle Verkaufsstände für T-Shirts, Poster und anderen Kiss-Souvenirkram unter genauer Beobachtung. Wenn irgendwo die Warteschlange zu lang sei – dann werde der Showbeginn halt verzögert, bis alle dran waren. „Sobald die Band zu spielen beginnt, rennen die Leute zu ihren Plätzen“, sagt er. „Das kann uns bis zu 40.000 Dollar T-Shirt-Umsatz kosten.“ An guten Abenden verdient das reisende Rock-’n’-Roll-­Unternehmen allein mit dem Warenverkauf 700.000 Dollar. Die Idee, dass sich das tendenziell noch steigern ließe, wenn Kiss einfach gar nicht auf die Bühne kämen, hatte zum Glück noch niemand.

Auf den Spuren von Elvis Presley und The Beatles
Es ist mit dieser Band ein bisschen wie mit ­Paris ­Hilton, ­Cristiano ­Ronaldo oder dem CDU-Pfadfinder Philipp Amthor: Sie sind einem auch dann ein Begriff, wenn man sich überhaupt nicht für das interessiert, was sie machen. Kiss kennt man als die Hardrock-­Zirkustruppe mit den dämonischen Clowngesichtern, die auch von ­Thomas ­Gottschalk gern zu „Wetten, dass..?“ eingeladen wurde. Mit Pyrotechnik, fliegenden Musikern und reichlich Schockeffekten setzten sie in den 1970ern und 1980ern einen neuen popkulturellen Standard für Bühnenshows, wobei ihnen trotzdem nur ein Hit gelang: „I Was Made for Lovin’ You“ läuft heute noch in den Radios, obwohl das Lied 1979 eher ein Versuch war, John ­Travolta die New Yorker Disco-­Königskrone abzuluchsen.
Besondere Talente entwickelten die Band und ihre wechselnden Manager dafür im Verkauf von Souvenirprodukten. Eine neue Idee war das nicht. Schon 1956 ließ die Marketing-Abteilung von ­Elvis ­Presley T-Shirts, Schuhe und Gürtelschnallen herstellen, um die frisch gegründete Teenager-­Industrie zu bedienen, dann kamen die Beatles mit ihrem Sortiment. Kiss trieben das etablierte Modell zu monströsen Extremen. 1977 wurde in die Drucktinte eines neuen Kiss-Comic­heftes echtes Blut aller vier Bandmitglieder gemischt. Zu den 3.000 Artikeln, die es über die Jahre in ihrem Versand-­Shop zu kaufen gab, gehörten Kondome und ein lebensgroßer Kiss-Sarg. Was schon wieder Selbstironie war.

Kiss Rocks Vegas

Konzert
Freitag, 5.6. • 00.20 Uhr
bis 3.8. in der Mediathek.

Vor allem bei zwei Zielgruppen leisteten Kiss dabei kommerzielle Pionierarbeit: bei Kindern, die auch dann gern mit lustigen, teuren Superheldenfiguren spielen, wenn sie die obszönen Songtexte noch nicht kapieren – und beim zahlungskräftigen Eventpublikum. Unter anderem wurde 2011 eine Kiss-Kreuzfahrtserie gestartet. 2017 brachte Bassist ­Gene ­Simmons eine CD-Box heraus, die er an jeden Käufer persönlich überreichte. Die billigste Variante mit Fünf-Minuten-Treffen kostete 2.000 Dollar, für den Hausbesuch zahlte man 50.000. „Kiss ist wie eine Bande Kakerlaken, die euch alle überleben wird“, sagt ­Simmons, der sich über die Jahre zum Business-­Strategen entwickelt hat, Bücher zum Thema herausbringt und von der Agentur, die ihn als Event­redner vermietet, zum „Marketing-­Guru“ erklärt wird. Und natürlich fragt man sich da: Wenn ­Simmons recht hat – soll man einer Horde Ungeziefer ernsthaft zujubeln? In Wahrheit haben Kiss natürlich nur die Kakerlakenhaftigkeit des gesamten, alten Rock-’n’-Roll-­Business ins Schlaglicht gerückt, schamlos und überzeichnet. Die junge Generation der Digital Natives würde sich mit solchen Konzepten ohnehin nicht dauerhaft begeistern lassen.
Wäre die Pandemie nicht ausgebrochen, befänden sich die Bandgründer ­Gene ­Simmons und Paul ­Stanley mit ihren aktuellen Mitmusikern derzeit weiter auf großer Abschieds-Welttour. Zur Überbrückung kann man auch einfach den furiosen, 2014 gefilmten Live-Mitschnitt „Kiss Rocks Vegas“ anschauen und sehr laut aufdrehen. Songs wie „Detroit Rock City“ oder „Shout It Out Loud“ funktionieren heute noch als großer Autoren-Heavy-Metal, kreuzen Süßes und Satanisches. Und zeigen, wie ungerecht es wäre, die Band Kiss allein auf ihre Geldgier zu reduzieren. Denn ein guter Comic bleibt ein guter Comic. Auch wenn er in der 25. Neuauflage verhökert wird.

Kiss ist wie eine Bande Kakerlaken, die euch alle überleben wird

Gene Simmons, Musiker